Rekordfreigabe von Agrargiften in Brasilien während Bolsonaros Amtszeit - der selber aß gerne biologisch-organisch frei von Pestiziden

Nach dem Ende der vier verheerenden Jahre Amtszeit Bolsonaros im Regierungspalast Planalto ist in sehr vielen Bereichen Resümee zu ziehen, im Bereich Agrargifte sieht die bisher bekannte Bilanz richtig übel aus - daran haben aber auch aus Deutschland stammende Konzerne ihren Anteil.
| von Christian.russau@fdcl.org
Rekordfreigabe von Agrargiften in Brasilien während Bolsonaros Amtszeit - der selber aß gerne biologisch-organisch frei von Pestiziden
Agrargifte. Foto: Christian Russau

Der brasilianische Universitätsprofessor Marcos Pedlowski von der staatlichen Universität in Campos dos Goytacazes im Bundesstaat Rio de Janeiro hat in den vergangenen Jahren penibel Buch geführt über die von der Bundesregierung in Brasília jeweils neu zugelassenen Agrargifte. So berichtete Pedlowski am 31. Dezember 2022 über zwei gerade vom Agrarministerium veröffentlichte Rechtsakte, in denen weitere 98 Agrargifte von Brasília freigegeben wurden. Pedlowski rechnete alles zusammen und kam im Zeitraum der vier Jahre Amtszeit von Jair Bolsonaro (1.1.2019 - 31.12.2022) auf 2.030 freigegebene Agrargifte.

Erhebungen der Professorin Larissa Bombardi von der USP zufolge stirbt in Brasilien alle zwei Tage ein Mensch an Pestizidvergiftung, ein Fünftel der Opfer sind Kinder und Jugendliche bis 19 Jahre. Der enorme Pestizideinsatz in Brasilien führt zur Gesundheitsgefährdung der in ländlichen Regionen dem Pestizideinsatz direkt durch Luftversprühung oder durch Grundwasser- und Bodenkontamination ausgesetzten lokalen Bevölkerung (oft indigene und andere traditionelle Gemeinschaften), als auch der gesamten Bevölkerung durch zunehmend kontaminierte Lebensmittel als auch durch hohe Schadstoffwerte im Trinkwasser, ermöglicht durch zurückgefahrene behördliche Kontrollen und durch ohnehin vergleichsweise laxe gesetzliche Grenzwerte. Der vormalige UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte und toxische Substanzen, Baskut Tuncak (2014-2020), stellte anlässlich seines Besuchs in Brasilien im Zusammenhang mit dem Einsatz von Pestiziden "schwere Menschenrechtsverletzungen" fest. Das Land steuere auf eine "zunehmend toxische Zukunft" zu.

Gleichzeitig liegt im (so konservativ-reaktionären wie noch nie) Nationalkongress in Brasília die sogenannte Gesetzesvorlage des "Pacote do Veneno" ("Giftpaket"), also die Gesetzesvorlage 1459/2022, die die Grundlagenbestimmung über Produktion, Lagerung, Verwendung und Entsorgung von Agrarchemikalien in Brasilien neu definieren soll, sprich: weiter flexibilisieren und möglichst viel Pestizide freigeben soll. Gesetzesvorhaben in Brasilien brauchen oft viele Jahre, bevor sie durch alle Instanzen sind, bei dem Giftpaket sind aber schon ziemlich viele Instanzen durchschritten worden - erst als PLS 526/99 des damaligen Senators und (noch immer Sojakönigs) Blairo Maggi, dann als PL 6299/2002 in der Abgeordnetenkammer und nun im Senat als die erwähnte PL 1459/2022. Im Dezember wurde noch der Bericht der Senats-Kommission verabschiedet, hinter den Kulissen brodelt es (nicht nur bei dem Thema) in Brasília, aber entschieden ist der Kampf um das "Giftpaket noch nicht. Auch aus dem Ausland wird dieser Kampf nah verfolgt, sowohl Abgeordnete des EU-Parlaments wie auch 21 bundesdeutsche Abgeordnete hatten parteiübergreifend einen Brief an die Präsidenten des Senats und mehrere Ausschussvorsitzende in Brasília gesandt, um ihre Besorgnisse über das "Giftpaket" zum Ausdruck zu bringen.

Auf der anderen Seite setzt sich (nicht nur) die Europäische Kommission für die Ratifizierung des EU-MERCOSUR-Freihandelsvertrages ein, der (neben vielem Anderen wie weitere Regenwaldrodung und mehr SUVs, weniger Zölle und mehr Landkonflikte) zu mehr Pestizidexporten aus Europa in den MERCOSUR führen wird und somit auch in das Land, das jetzt bereits den Weltmeistertitel im Agrargiftbereich trägt: Brasilien. Zugleich werden diese Pestizide noch mehr auch wieder zurück nach Europa kommen - und zwar in den von Europa mehr eingeführten Agrarprodukten. Ob das von der Ampel-Koalition angestrebte Exportverbot von in Deutschland nicht zugelassenen Pestiziden robust genug wird, darf bezweifelt werden, dennoch ist es ein erster Schritt. Wenn dieses Exportverbot sich auch auf Wirkstoffe (und nicht nur auf fertige Pestizidformeln) bezöge und zudem auch fest verankert im Pflanzenschutzgesetz wäre, dann wären wir schon noch einen Schritt weiter.

Die Investigativ-Journalist:innen von De Olho nos Ruralistas hatten bereits im August vergangenen Jahres ihre Hintergrundrecherche zu politischer Lobbyarbeit von Agro-Konzernen in Brasília während der Bolsonaro-Regierung vorgelegt und enthüllten dabei die Beteiligung multinationaler Unternehmen an der verschachtelten Finanzierung des Think Tanks der Agrarindustrie namens Pensar Agro Institut, darunter finden sich laut der Analyse Unternehmen wie Bayer, Basf, Syngenta, JBS, Cargill und Nestlé und diese hielten insgesamt 278 Treffen mit der Regierung Bolsonaro ab.

Letzterer selbst stellte also in Fragen der Liberalisierung und Flexibilisierung von Agrargiften in Brasilien neue Rekorde auf, während er für die Speisung von sich und seiner Familie anscheinend tunlichst darauf achtete, dass im Regierungspalast Planalto biologisch-organische Nahrungsmittel als Gerichte auf den Tisch kommen. Mit Bolsonaros präsidialer Kreditkarte (zahlen tut die Steuerzahler:in) wurde 158 Mal in den vergangenen vier Jahren in einem Biomarkt eingekauft.

// Christian Russau