Landlosenbewegung MST mobilisiert Tausende zum Welternährungstag 2023

Die Landlosenbewegung MST hat am gestrigen Welternährungstag 2023, am Montag, dem 16. Oktober, in 17 brasilianischen Bundesstaaten Demonstrationen auf den Straßen organisiert und Gespräche mit Regierungsvertreter:innen geführt, um das Thema der dringend anstehenden Agrarreform im Lande auch durch politische Advocacy-Arbeit voranzubringen.
| von Christian.russau@fdcl.org
Landlosenbewegung MST mobilisiert Tausende zum Welternährungstag 2023
Symbolbild: MST-Besetzung im Bundesstaat Espírito Santo. Foto: Christian Russau

Am gestrigen Montag veranstaltete die brasilianische Landlosenbewegung MST einen landesweiten Kampftag mit Mobilisierungen in insgesamt 17 brasilianischen Bundesstaaten. Dabei forderten tausende Landlose die Umsetzung der Agrarreform durch die Ansiedlung von Familien, und die MST forderte nach den für die Landlosenbewegung sehr schwierigen Bolsonaro-Jahren endlich wieder staatliche Investitionen in Form von Krediten und staatlicher Förderungen durch neue Rahmengesetzgebungen für die Erzeugung von Lebensmitteln aus kleinbäuerlichen Familienbetrieben. Unter dem Motto "Für Land und echte Lebensmittel für das Volk" gab es Demonstrationen und Mobilisierungen vor öffentlichen Einrichtungen, Verhandlungsanhörungen und Solidaritätsaktionen, mittels deren die Landlosenbewegung mehr als 20 Tonnen Lebensmitteln in verschiedenen Bundesstaaten als Spenden an die bedürftige Bevölkerung verteilte. Die Aktionen werden in dieser Woche fortgesetzt, mit einem breiten Programm von Gesprächen mit Vertreter:innen der Ministerien sowie mit den für die Durchführung der Agrarreform verantwortlichen Beamt:innen der Behörde des INCRA sowie mit der Nationalen Versorgungsgesellschaft Conab, die unter anderem für das Schulspeisungsprogramm zuständig ist.

Die Landlosenbewegung MST betonte in einer anlässlich des Welternährungstages veröffentlichten Erklärung die Notwendigkeit, eine Kredit- und Lebensmittelbeschaffungspolitik für kleinbäuerliche Familienbetriebe zu entwickeln, die das Nahrungsmittelerwerbsprogramm (PAA) und das nationale Schulspeisungsprogramm (PNAE) stärkt. Zudem fordert die MST auch mehr Investitionen in das Nationale Bildungs- und Agrarreformprogramm (PRONERA), damit die Bewegung selbst die Bildung auf dem Lande wieder fördern kann.

Gestern fand als die Demonstrationen begleitender Auftakt ein Gespräch von MST-Vertreter:innen mit der Bundesministerin des Ministeriums für Planung, Simone Tebet von der eigentlich eher konservatveren Partei MDB statt, die aber Teil der breiten Regierungsallianz der Regierung Lula ist. Im dem Vernehmen nach positiven Gespräch machte die nationale Führung der Landlosenbewegung MST die Ministerin auf die dringende Situation aufmerksam, in der 65.000 Familien leben, die seit mehr als zehn Jahren auf das Recht auf Land warten, diese endlich im Rahmen der Agrarreform anzusiedeln. Vor dem offiziellen Treffen mit Ministerin Tebet trafen die Vertreter:innen der nationalen Führung der MST mit dem technischen Team des Ministers zusammen und präsentierten ihre Forderungen und Vorschläge, um die Agrarreform durchführbar zu machen und die Produktion gesunder Lebensmittel aus nachhaltiger Landwirtschaft im Land voranzutreiben, so die MST. Die größte Dringlichkeit bestehe nach Ansicht der MST darin, das Tempo der Ansiedlungen im Land insgesamt zu erhöhen und dergestalt die Ansiedlung dieser 65.000 Landlosen zu gewährleisten, die seit mehr als einem Jahrzehnt in der juristischen Vorform einer potentiellen Agrarreform, also auf noch als besetzt, aber eben noch nicht als Ansiedlung definierten Gebieten leben und die entsprechend auf eine Legalisierung warten. Die Landlosenbewegung hat sich zum Ziel gesetzt, in den vier Jahren der Regierung Lula 50.000 Familien pro Jahr anzusiedeln, doch bisher (seit Amtsantritt Regierung Lual am 1. Januar dieses Jahres) wurden nur 5.711 Familien angesiedelt. Laut Ansicht der Landlosenbewegung liegt dieses nach wie vor zu langsame Tempo der Umsetzung der Agrarreform auch an beschränkten Haushaltsmitteln des Bundes dieses Jahr. Nach Angaben der MST würde die Ansiedlung jeder Familie durchschnittlich 300.000 Reais (derzeit umgerechnet 56.000 Euro) kosten. Die MST selbst räumt jedoch ein, dass die nahezu defacto-Zerschlagung des Nationalen Instituts für Kolonisierung und Agrarreform INCRA und der Nationalen Versorgungsgesellschaft CONAB in den letzten Jahren der Bolsonaro-Regierung dieses Ziel zum jetzigen Zeitpunkt nahezu unmöglich macht, denn die Agrarreformbehörde Incra selbst leide nach Angaben des MST noch immer einen Mangel von 3.500 Mitarbeiter:innen.

In Bezug auf die angespannte Haushaltslage erklärte die Ministerin Tebet, dass der diesjährige Haushalt - der im vergangenen Jahr noch vom alten Kongress unter der Regierung Bolsonaro verabschiedet wurde - noch durch die von der Verfassung (seit der Verfassungsänderung während der Temer-Regierung) große Schuldenbremse eingeschränkt werde: demnach darf der Gesamthaushalt für die Dauer von 20 Jahren maximal inflationsbereinigt steigen, was den Handlungsspielräumen selbst in Sozialfragen politisch gewillter Regierung erhebliche Einschränkungen auferlegt. Vertreter:innen des Ministeriums erklärten aber, dass es ab dem nächsten Jahr, wenn der neue finanzpolitische Rahmen in Kraft tritt, einfacher sein werde, Raum für Landreformpläne zu schaffen. Zudem sei dies keine alleinige Entscheidung des Planungsministeriums, sondern Haushaltsfragen oblägen Kabinettsbeschlüssen aus Gremien der Ministerien für Finanzen, Verwaltung, Planung und dem Präsidialamt. Ministerialverterter:innen wiesen auf dem Treffen Medienberichten zufolge zudem auch darauf hin, dass die Regierung die Freigabe von 305 Mio. Reais für Kleinkredite für die 5.711 Familien, die in diesem Jahr angesiedelt wurden, garantiert habe, dass aber hierfür die Genehmigung für die Ausgaben noch auf ein Votum des brasilianischen Kongresses wartet - eines Kongresses, der nach wie vor mehrheitlich von mit dem mächtigen Agrobusiness sympathisierenden Parlamentarier:innen besetzt ist.

Ein weiterer Punkt, den die Landlosenbewegung MST bei dem Treffen mit dem Planungsministerium vorbrachte, war die Notwendigkeit, den Zugang zu eben solchen Krediten für die angesiedelten Familien zu gewährleisten und die Infrastruktur der Siedlungen zu verbessern, auch derjenigen, die bereits legalisiert worden sind. In Brasilien gibt es derzeit rund eine Million Familien, die im Rahmen der Agrarreform angesiedelt wurden, aber selbst im Fall des Bundesprogramms zur Stärkung der bestehenden landwirtschaftlichen Familienbetriebe Pronaf habe ein großer Teil dieser Menschen keinen Zugang zu Krediten, weil sie die Kriterien der Banken nicht erfüllen, so die MST-Kritik.

Die Beamten des Planungsministerium versprachen Medienberichten zufolge, die Vorschläge der Landlosenbewegung MST zu analysieren und die Forderungen mit anderen Ministerien zu besprechen. Nach dem Treffen mit Ministerin Tebet überreichten die Landlosenverteter:innen der Ministerin einen Korb mit MST-Produkten.

// Christian Russau