Kampf um Form der Agrarreform im Bundesstaat São Paulo

Privatisierung der Agrarreform im agrobusinessfreundlichen Bolsonarista-Style oder kollektive Landtitel als Basis kleinbäuerlich-familiärer Gemeinschaftsagraransiedlungen?
| von Christian.russau@fdcl.org
Kampf um Form der Agrarreform im Bundesstaat São Paulo
Privatisierung des Landes und der Agrarreform: Zäune. Symbolbild. Foto: Christian Russau

Der Oberste Gerichtshof STF unter Leitung der Richterin Cármen Lúcia entscheidet noch diesen Monat über Verfassungskonformität des Landesgesetzes 17.557/2022, das der Bundesstaat São Paulo mit der rechten Parlamentsmehrheit im Jahr 2022 verabschiedet hatte, mit dem das staatliche Programm zur Regularisierung von Land geschaffen wurde, das von Kritiker:innen als "Privatisierung der Agrarreform" und als "Landraubgesetz von São Paulo" scharf kritisiert wird.

Die Vorschrift des Landesgesetzes 17.557/2022 erlaubt es den Behörden des Staates São Paulo, auf gerichtlichem oder administrativem Wege Vereinbarungen zum Zwecke der Landübertragung an Private zu treffen, nach welchem das bisherige Prinzip der Kollektivlandtitel bei der staatlichen Agrarreform durch individuelle Landtitel mit Eigentums- und Veräusserungsrechten ersetzt. Der aktuelle Bundesminister für Agrarentwicklung, Paulo Teixeira, hatte bereits zu Beginn seiner Amtszeit im Januar dieses Jahres zu vergleichbaren Gesetzen auf Bundesebene, die unter der vormaligen Regierung Bolsonaro verabschiedet und in mindestens 340.000 Fällen bundesweit in die Praxis umgesetzt worden waren, erklärt, diese "Papiere seien so viel wert wie Butterbrotpapier". Im Bundesstaat São Paulo hatte die Arbeiter:innenpartei PT im Dezember 2022 gegen das Gesetz und dessen Umsetzung Klage auf Verfassungsverstoß vor dem Obersten Gerichtshof eingereicht. Laut Presseberichten wird diese Verfassungsklage noch in diesem Monat vor dem Obersten Gerichtshof STF verhandelt werden.

Im September 2023 hatte die Landesregierung von São Paulo unter dem bolsonarista Tarcísio de Freitas die Umsetzung des Gesetzes 17.557/2022 mit der Verteilung von 10.000 Hektar Staatslandes an Private in die Wege geleitet. Dabei ging es um ein erstes Gebiet von 33 landwirtschaftliche Betrieben. Bei dieser neuen Privatisierungsmasche der Agrarreform geht es Medienberichten zufolge um Rabatte von bis zu 90 Prozent. Die Farmer:innen des Agrobusiness könnten sich demnach, so Medienberichte, also freuen über Grundstücke im Wert von bis zu 64 Millionen Reais (umgerechnet derzeit 12 Mio. Euro) mit einer Gesamtfläche von 3.900 Hektar.

Bei dem Staatsland geht es um sogenannte "terras devolútas", um brachliegendes, öffentliches Land, das nie einen offiziellen Eigentümer hatte und für die Agrarreform vorgesehen werden sollte. Die Verfassung verbietet eigentlich den Verkauf solcher Flächen, nur im Rahmen einer Agrarreform darf dieses Land vergeben werden. Doch die bisherige Praxis der Kollektivtitel wird im Bundesstaat São Paulo als einem der Vorreiter dieser Bolsonarista-Agrarreform seit Juli 2022 durch ein vom Landesparlament Alesp genehmigtes und vom damaligen Gouverneur Rodrigo Garcia (PSDB) abgesegnetes Gesetz als Kommerzialisierung von Flächen in São Paulo abgelöst.

Bereits unter der Regierung Michel Temer (2016-2018), die Mitte 2016 durch den parlamentarischen Putsch gegen die gewählte Regierung von Dilma Rousseff an die Regierung gekommen war, war das Gesetz 13.465/2017 auf Bundesebene verabschiedet worden, das die Landtitelvergabe flexibilisierte und auf dessen Basis seit 2017 hunderttausende Landtitel vergeben wurden. Die unter der Bolsonaro-Regierung aktive Landwirtschaftsministerin Tereza Cristina erklärte damals dazu, die Regierung Bolsonaro habe „die größte Landtitelregularisierung Brasiliens“ zustande gebracht. Bolsonaro selbst ließ sich im Wahljahr 2022 über ein halbes Dutzend Mal auf Zeremonien der Landtitelvergabe medial präsent ablichten, bei denen der damalige Präsident persönlich diese neuen Landtitel den neuen Eigentümer:innen übergab.

Bei diesen Landtitel handelt es sich weder um eine temporär befristete Nutzungskonzession wie beim sogenannten CCU (contrato de concessão de uso), auch nicht um die sogenannte direkte Nutzungskonzession CDRU (concessão de direito real de uso), die kollektiv oder individuell vergeben werden kann, aber bei der der Staat als Eigentümer des Landes bestehen bleibt, sondern diese privatisierte Agrarreform hat sich gleich für den direkten Landtitelbesitz TD (título de domínio) entschieden, dieser erfolgt individuell und das Stück Land wird direkt an den Begünstigten übertragen, welches dieser nach einer Frist von zehn Jahren frei am Markt veräußern dürfte.

Die Landlosenbewegung ihrerseits fordert weiterhin mit Nachdruck die kollektive Landnutzungskonzession CDRU. Sie sind gegen diese individualisierte Landtitelübertragung, da diese Gefahr laufe, dass das Land ohne weiteren Auflagen wie sozialer Bedürftigkeit der Landsuchenden frei auf dem Markt verkauft werden könnte, was letztlich den Großgrundbesitz und das Agrobusiness langfristig noch weiter fördern würde.

Jetzt im November wird der STF unter Vorsitz von Cármen Lúcia sich dem Thema widmen. Lúcia hatte zuvor angekündigt, dass sie im August dieses Jahres ihre Stellungnahme zu dieser Angelegenheit veröffentlichen würde, was jedoch nicht geschah - erst jetzt wurde die Angelegenheit auf die Tagesordnung gesetzt. Die Generalstaatsanwaltschaft PGR hat in einer Stellungnahme zum Fall der Verfassungsklage bereits erklärt, dass sie das Gesetz von São Paulo in der vorliegenden Form für verfassungswidrig hält, die Generalbundesanwaltschaft AGU appellierte in ihrer Stellungnahme, dass das Gesetz 17.557/2022 sich an die Verfassungsbestimmungen des Bundes in Sachen Agrarreform zu halten und diese zu respektieren habe.

// Christian Russau