Die Stichtagsregelung Marco Temporal, der Fall der Terra Indígena Ibirama La Klãnõ und eine historische deutsche Mitverantwortung

Heute will der Oberste Gerichtshof STF die Verhandlung um die Stichtagsregelung Marco Temporal wieder aufnehmen. Dabei geht es auch um eine historische deutsche Mitverantwortung.
| von Christian.russau@fdcl.org
Die Stichtagsregelung Marco Temporal, der Fall der Terra Indígena Ibirama La Klãnõ und eine historische deutsche Mitverantwortung
[Symbolbild] Terra Indígena. Foto: Christian Russau

Seit 2021 lag das Verfahren auf Eis, nachdem zuvor zwei Richter bereits ihr Urteil gefällt hatten (einer dafür, einer dagegen), nun wird das Verfahren fortgesetzt. Beim "Marco Temporal" geht es um die Einführung einer Stichtagsregelung, nach der die juristische Anerkennung jedes indigenen Territoriums von dem Nachweis seiner Nutzung am 5. Oktober 1988, dem Tag der Verkündung der heute gültigen Verfassung Brasiliens, abhängen soll. Die indigene Gemeinschaft, die Anspruch auf ein bestimmtes Gebiet erhebt, müsse nachweisen, dass sie an besagtem Stichtag auf genau diesem Land gelebt hat oder sich zu diesem Stichtag in einem gerichtlichen Streit um das Land oder in einem direkten Konflikt mit Eindringlingen befunden habe. Für die Indigenen ist klar: So sollen mit einem Handstreich 500 Jahre kolonialer Ausbeutung und Landraub legalisiert werden. Der konkrete Fall der Terra Indígena Ibirama La Klãnõ im südlichen Bundesstaat Santa Catarina, um den es geht, hat historisch auch etwas mit Deutschland zu tun.

Konkret wird sich der Oberste Gerichtshof Brasiliens STF heute mit dem Landkonflikt um ein indigenes Territorium - die Terra Indígena Ibirama La Klãnõ im südlichen Bundesstaat Santa Catarina - auseinandersetzen. Dabei geht es genau um die Argumentation der Stichtagsregelung "Marco Temporal". Die Landesumweltbehörde des Bundesstaates Santa Catarina (Fundação do Meio Ambiente do Estado de Santa Catarina (Fatma)) forderte vor Gericht die Räumung eines 80.000 Quadratmeter großen Gebietes, das von indigenen Xokleng, Kaingang und Guarani besetzt ist und das eigentlich angrenzt an das im Jahre 1958 vom Staat ausgewiesene (aber noch nicht abschliessend demarkierte) Gebiet der Terra Indígena Ibirama La Klãnõ. Das historisch von den Xokleng und den angrenzenden Kaingang und Guarani bewohnte Gebiet wurde Ende der 1980er Jahre noch durch den Bau des Staudamms Barragem Norte beeinträchtigt, so dass die Indigenen wiederum nur ein kleineres Gebiet beanspruchen konnten. Auf dem Gelände befinden sich heutzutage aber auch Tabakfarmer:innen und es sind dort Holzfirmen aktiv. Im Jahr 2000 reichten die Farmer:innen und eine Holzfirma Klage ein und argumentierten mit der Stichtagsregelung. Die Landesregierung von Santa Catarina argumentiert, dass die Indigenen das Gebiet illegal besetzt hielten und die Anerkennung als indigenes Territorium nicht rechtens sei, da die Indigenen am Stichtag, dem 5. Oktober 1988, auf diesem konkreten Gebiet nicht anwesend waren. Daher gelte die Stichtagsregelung des "Marco Temporal". Diese Rechtsansicht wurde von den Behörden der Landesregierung von Santa Catarina vor den Obersten Gerichthof STF gebracht, wo im Jahre 2019 Richter Moraes entschied, dass dieser Fall - im Gegensatz zum früheren Fall der Raposa Serra do Sol - sehr wohl strahlende Rechtskraft grundlegender Natur habe, so dass das hier im STF entschiedene Urteil Grundsatzcharakter entfalte und entsprechend künftig für alle anderen Landkonflikte um indigene Territorien in Brasilien Rechtskraft entfalte. Im Jahr 2021 gaben bereits zwei Richter des STF ihr diesbezügliches Votum ab: Richter Edson Fachin gegen den "Marco Temporal" und Richter Kassio Nunes Marques für den "Marco Temporal", bevor der Abstimmungsprozess im STF unterbrochen wurde.

Brisant ist die Frage der Terra Indígena Ibirama La Klãnõ im südlichen Bundesstaat Santa Catarina auch aus deutscher Perspektive., wie ein Hintergrundbericht der brasilianischen Sektion von Survival International darlegt. Denn die gewaltsame und äußerst brutale und menschenverachtende Vertreibung, Tötung bis hin zur Vernichtung der angestammt im Gebiet des heutigen Santa Catarina lebenden indigenen Xokleng ab den 1850er Jahren bis in die 1930er Jahre war eine direkte Folge der massiven deutschen Einwanderung in den Süden Brasiliens.

Brasilien - damals noch Kaiserreich - begann insbesondere ab dem Jahre 1850, die europäische Einwanderung zu fördern, um Land im Süden des Landes zu besetzen, zu "kultivieren", zu "entwickeln". Viele dieser Gebiete waren indigenes Land, was dazu führte, dass ein großer Teil der Xokleng und anderer indigener Völker gewaltsam aus ihren Territorien vertrieben wurde. Um den Weg für die europäische Besatzung freizumachen, finanzierte die Regierung die so genannten Bugreiros (das waren bewaffnete Gruppen, die auf die Ausrottung indigener Völker spezialisiert waren) und beschleunigte so den Prozess der kolonialen Landnahme. Die Besetzung des historisch angestammten indigenen Gebietes des Ibirama La Klãnõ der erst kurz zuvor kontaktierten Xokleng-Indigegen erfolgte äußerst brutal und gewaltsam durch die Bugreiros und eben deutsche Einwanderer.

Ein zeitgenössischer deutschsprachiger Bericht aus dem Jahre 2007 zeigte klar die menschenverachtende Weltsicht der deutschen Einwanderer:innen und legitimierte den Genozid an den Indigenen. Karl A. Wettstein (Oberleutnant a.D.) veröffentlichte 1907 sein Buch "Brasilien und Blumenau", Bibliothek des Reichskolonialamts, Leipzig: Verlag von Friedrich Engelmann, 1907, in dem er zunächst die deutsche Lesart der Indigenen wiedergab: "[D]er alte Bewohner der Urwälder, der Botokude oder, wie man die Indianer gewöhnlich nennt, der Buger. Von diesem halbwilden Urwaldbewohner, der unbekleidet, vielfach noch mit Steinbeilen ausgerüstet, von Schnecken und Gewürm und von Erde als Zukost lebt, in rein okkupatorischem Gewerbe als Sammler, Fischer und Jäger das Hinterland von Blumenau durchstreift und keinerlei Handwerk, sondern nur tierischen Kampf ums Dasein kennt, trennt uns abgrundtief die Verschiedenheit der Kultur."

Er fährt fort: "Dem Deutschtum aber erwächst die Aufgabe, durch mittelbare Hilfsmittel, namentlich Bahnen, das Unwesen der Buger unschädlich zu machen und durch schnell vorwärts geführte Kolonisation diese wilden Völker in rückständigere Nachbargebiete abzuschieben."

Gleiche Schrift Karl A. Wettsteins zitiert die Zeitung "Urwaldboten" aus Blumenau, die in deutscher Sprache den deutschstämmigen Leser:innen Folgendes vermittelte: "Die Buger stören die Kolonisation und den Verkehr zwischen Hochland und Küste. Diese Störung muß beseitigt werden und zwar so schnell und gründlich wie möglich. Sentimentale Betrachtungen über die ungerechte Praxis der Bugerjagden, die den Grundsätzen der Moral widersprechen, sind hier ganz und gar nicht am Platze. Will man sich aber auf dieses Gebiet begeben, so liegt es unserem Empfinden näher, Mitleid mit den Opfern der Wilden zu bekunden, anstatt mit den Mördern zu sympathisieren. [...] Die vagabundierenden Stämme müssen durch ein großes Aufgebot von Bugerjägern und Waldläufern aufgehoben und so mit einem Schlage unschädlich gemacht w[e]rden. Der aufgehobene Stamm muß verpflanzt und unter strenger Bewachung interniert werden."

So muss die historische Mitverantwortung Deutschlands mitgedacht werden, wenn von den Gerichtsverfahren um den "Marco Temporal" die Rede ist.

Die Vertreter:innen der Xokleng argumentieren in dem Fall der Terra Indígena Ibirama La Klãnõ vor Gericht, dass sie gewaltsam aus ihren Gebieten vertrieben wurden, viele ihrer Vorfahren ermordet wurden und dass ihnen ja erst die Verfassung von 1988 das Recht auf ihr angestammtes Gebiet (in der Theorie) gab und sie erst ab dann schrittweise ihre historischen Gebiete wieder in den Blick nehmen konnten. "Wenn wir 1988 nicht in einem bestimmten Gebiet waren, dann heißt das nicht, dass es Niemandsland war oder dass wir nicht dort waren, weil wir es nicht wollten. Die Stichtagsregelung verfestigt eine historische Gewalt, die bis heute ihre Spuren hinterlässt", so der Sprecher Brasílio Priprá von den Xokleng.

// Christian Russau