Die Landlosenbewegung fordert ein neues Modell der Landreform

Interview mit João Pedro Fernando Sampaio
| von Fernando Sampaio (Tribuna da Imprensa)

"Sie räumen ein, dass die Landreform, welche die MST vertritt, ein „Auslaufmodell“ ist? Was ist zu tun?"

João Pedro Stédile: "Während des gesamten 20. Jahrhunderts kämpften die Landarbeiterbewegungen Lateinamerikas für die so genannte klassische Landreform. Diese bestand in einer Kombination aus Umverteilung des Landes und einem Projekt zur Entwicklung einer nationalen Industrie, der Stärkung des Binnenmarkts und einer Umverteilung der Einkommen. Dieses Modell würde die Landarbeiter aus der Armut befreien und eine gerechtere Entwicklung fördern. So ist es in allen Ländern der nördlichen Hemisphäre geschehen. Die brasilianischen Eliten jedoch haben sich dem Neoliberalismus verschrieben, einem Modell, das vom internationalen Finanzmarkt beherrscht wird, und innerhalb dessen die klassische Landform ins Leere läuft.

Das Modell der klassischen Agrarreform ist ein „Auslaufmodell“, weil es von den Eliten so bestimmt wurde, nicht weil wir es so wollten. Die Agrarfrage allerdings ist noch nicht gelöst. Wir haben 150.000 Familien in Lagern und weitere vier Millionen landlose Familien in ganz Brasilien. Vor diesem Hintergrund wird die MST für eine Landreform eines neuen Typus kämpfen. Diese bedeutet vor allem die Demokratisierung des Landbesitzes. Damit soll eine Reorganisation der Produktion verbunden sein, die hauptsächlich Lebensmittel für den Binnenmarkt erzeugt, unabhängig von der Kontrolle transnationaler Unternehmen. Außerdem brauchen wir eine Landreform, die neue Verfahren für die Bearbeitung des Landes einbezieht, solche, die die Umwelt schützen und schonen und in die ländlichen Gebiete kooperative Formen der Landwirtschaft sowie Zugang zu Schule und Bildung bringt."

"Was ist Ihr Vorschlag für die brasilianische Landwirtschaft? Wie sieht das neue landwirtschaftliche Modell aus?"

"Es darf nicht zugelassen werden, dass irgendein Unternehmen 100.000 oder 1 Million Hektar Land besitzt, nur weil es Geld hat. Die eigentlichen Landwirte, selbst die kapitalistischen, wissen, dass man mit einer Farm von 1.000 Hektar schon viel Geld verdienen kann. Die Produktion sollte vor allem die Nachfrage des Binnenmarktes bedienen. Das größte Marktpotential für Agrarprodukte liegt nicht in Europa oder in den Vereinigten Staaten, sondern bei den Armen in Brasilien. Etwa 60 % der Bevölkerung ernähren sich schlecht.

Oder umgekehrt: wir haben 120 Millionen Brasilianer, die essen wollen, aber kein Geld dafür haben. Im Moment kommen die transnationalen Firmen hierher und kontrollieren die Produktion, den Markt und den Preis. Das ist nicht richtig. Als Alternative zur Kontrolle der Produktion und der Verarbeitung der Nahrungsmittel müssen wir kleine Agroindustrien aufs Land bringen, damit dort Arbeit und Einkommen geschaffen werden können.

Schließlich müssen wir öffentliche Dienstleistungen aufs Land bringen, besonders die formale Bildung aber auch Organisationen und Methoden zur Bildung eines ländlichen Bürgertums. Ein Landarbeiter ohne Bildung sieht nur das Ackerland vor sich und begreift nicht die Komplexität der brasilianischen Gesellschaft und der Auseinandersetzung mit ihr. Wir unternehmen große Anstrengungen, um das Niveau des kulturellen und politischen Bewusstseins zu heben."

"Was ist ihre Meinung über die ungleiche Einkommensverteilung im Land?"

"Die Ungleichheit zwischen Arm und Reich in unserem Land ist eine Schande, die durch Privilegien der brasilianischen Elite in Vergangenheit und Gegenwart entstanden ist. Laut den Untersuchungen von Márcio Pochmann kontrollieren 5.000 Familien 40% der nationalen Reichtümer, sodass 10% der Reichen sich 75% der Gewinne sichern, während 90% der Bevölkerung mit den restlichen 25% Vorlieb nehmen muss.

Die neoliberale Wirtschaftspolitik ist darauf ausgerichtet, diese Ungleichheit aufrechtzuerhalten, ja sogar auszuweiten. Die brasilianische Gesellschaft gibt momentan 150 Milliarden ihrer Steuern für die Tilgung der Zinsen aus den Staatsschulden aus. Diese werden an 20.000 Familien von Bankiers und Spekulanten ausgeschüttet. Sogar der Vizepräsident, José de Alencar, hat diese absurde Umverteilung angemahnt.

Aufgrund der Privilegien der herrschenden Klassen haben wir auf dem Land historische Möglichkeiten verpasst, um die so genannte klassische Agrarreform umzusetzen, nämlich die Umverteilung des Bodens gekoppelt an ein Projekt zur Entwicklung der nationalen Industrie und des Binnenmarktes."

"Wie bewerten Sie die brasilianische Linke?"

"Die brasilianische Linke befindet sich in einem pädagogischen Prozess. Sie ist dabei zu begreifen, dass soziale Veränderungen nicht durch den bloßen Willen eines Präsidenten, einer Partei oder einer Regierung stattfinden, so sehr sie auch unsere Freunde sein mögen und wir den Präsidenten bei den Wahlen unterstützt haben. Die Neugestaltung des Landes wird durch die Mobilisierung des brasilianischen Volkes für ein nationales Entwicklungsprojekt stattfinden."

"Wie können wir die Serie von Korruptionsaffären im Lande analysieren?"

"Der brasilianische Staat wurde historisch durch Vetternwirtschaft, „kleine Gefälligkeiten“ und Korruption aufgebaut. Begünstigt wurde eine Bürokratie, die mit den Unternehmern verwoben war. Das ist doch keine Neuigkeit. Wir müssen von den Oberflächlichkeiten wegkommen und die Ursachen dieser Irrwege suchen. Und diese liegen in den engen Beziehungen von Senatoren und Abgeordneten mit Unternehmern, Bauunternehmern, Bankiers und dem Finanzmarkt. Es lohnt sich nicht, eine politische Reform zu verabschieden, die nicht gleichzeitig Veränderungen in diesem System schafft: das Stahlunternehmen ‚Vale do Rio Doce’ stellt 47 Abgeordnete, die ‚Aracruz Zellulose’ 16, die ‚Itaú Bank’ 27 und die ‚Gerdau-Group’ 27.

Das Problem der brasilianischen Demokratie ist noch tiefgreifender als Zeitungen und Fernsehen berichten. Ja, wir brauchen eine politische Reform, um die „drei Gewalten“ des Staates wieder in den Dienst der Bevölkerung zu stellen. Die Verfassung sieht in Artikel 14 die Durchführung von Volksabstimmungen, Referenden und Volksbefragungen vor. Gemeinsam mit anderen soziale Bewegungen und Körperschaften, wie der OAB (Bund der brasilianischen Anwälte) und der CNBB (brasilianische Bischofskonferenz), organisieren wir eine Kampagne zur Verteidigung der Demokratie und der Republik."