40 Jahre MST! Viva!

Die Landlosenbewegung MST veröffentlicht anlässlich der Feierlichkeiten ihres 40-jährigen Bestehens in der MST-Escola Nacional Florestan Fernandes einen offenen "Brief der Verbundenheit mit dem Kampf und mit dem Volk Brasiliens".
| von Christian.russau@fdcl.org
40 Jahre MST! Viva!
Symbold MST-Landbesetzung [hier Bundesstaat Espírito Santo]. Foto: Christian Russau

Eine der größten sozialen Bewegungen Lateinamerikas, die Bewegung der landlosen Landarbeiter:innen MST, hält an diesem Wochenende in der MST-Escola Nacional Florestan Fernandes in der Nähe der Kleinstadt Guararema im Südosten des Bundesstaates São Paulo die Feierlichkeiten ihres 40-jährigen Bestehens ab. Im Rahmen dieser Feierlichkeit von vier Jahrzehnten des kollektiven Kampfes und der Organisation als sozialer Bewegung, die sich der in Brasilien seit Jahrzehnten so dringend notwendigen Agrarreform im Lande verschrieben hat, hat die MST am gestrigen Samstag den offenen "Brief der Verbundenheit der MST-Bewegung mit dem Kampf und mit dem brasilianischen Volk" veröffentlicht. Der Brief wurde am Ende der Sitzung der Nationalen Koordination der Bewegung veröffentlicht und während des Politischen Aktes zum 40-jährigen Bestehen der Organisation vorgestellt. "Wir bekräftigen die Verpflichtung, die wir vor vierzig Jahren eingegangen sind: Wir werden kämpfen, bis die Übel der Latifundien aus unserer Gesellschaft verschwunden sind und mit ihnen alle Unterdrückung, das Elend, die Umweltzerstörung und der Hunger", heißt es in einem Auszug aus dem Brief. Mit diesen Feierlichkeiten weist die MST auch den Weg zum diesjährigen mittlerweile 7. Nationalkongress der MST, der im Juli dieses Jahres in Brasília durchgeführt werden wird.

KoBra dokumentiert den Brief in deutschsprachiger Übersetzung:

"Offener Brief der Verbundenheit der MST-Bewegung mit dem Kampf und mit dem brasilianischen Volk"
Vierzig Jahre nachdem Frauen und Männer, Landarbeiter:innen, die Kühnheit und den Mut besaßen, die Latifundien herauszufordern und die Bewegung der Landlosen Landarbeiter:innen zu gründen, versammeln wir, die Mitglieder der Nationalen Koordination der MST, uns hier in unserer Escola Nacional Florestan Fernandes in Guararema im Bundesstaat São Paulo.
Wir versammeln uns hier, um unsere indigene, afrikanische und bäuerliche Abstammung aus so vielen historischen Kämpfen des brasilianischen Volkes zu feiern und um die Langlebigkeit unserer Organisation zu betonen.
Wir versammeln uns hier, um die Eroberung des Landes zu feiern. Wir sind 450.000 angesiedelte Familien und mehr als 65.000 kampierende Familien. In den von den Zäunen der Ignoranz und in den Zäunen des Elends nun befreiten Gebieten haben wir Hunderte von Kooperativen, Agrarbetriebenindustrien und Landschulen auf die Beine gestellt. Wir feiern die Würde derjenigen, die tagtäglich Lebensmittel herstellen und die unser gemeinsames Haus, Munsere utter Erde, schützen und bewahren.
Es sind diese Würde und dieser Stolz, die den Kampf für die Basisagrarreform anspornen, die uns anspornen, der Gewalt der Landmilizen und der Untätigkeit des Staates entgegenzutreten, ohne dabei von der festen Entscheidung abzurücken, die brasilianische Verfassung durchzusetzen: Der Boden muss demokratisiert werden, damit er seine soziale Funktion erfüllen kann, und zwar der bäuerlichen Bevölkerung ein würdiges Leben zu ermöglichen, gesunde Nahrungsmittel zu produzieren und die Natur zu erhalten.
Wir feiern die Organisation der arbeitenden Männer und Frauen, die sich mutig und entschlossen gegen den Parlamentsutsch von 2016 [gegen die gewählte Präsidentin Dilma Rousseff, Anm.d.Ü] gestellt hatten, die sich gegen den Abbau von Rechten und gegen die Menschenverachtung der Regierung Bolsonaro in der Covid-19-Pandemie zur Wehr gesetzt haben. Mit aktivem Widerstand in den Camps und in den Siedlungen, mit dem Aufbau der Agrarreform von unten, damit haben wir das Leben in den Vordergrund gestellt und Solidaritätsaktionen und Basismobilisierungen im ganzen Land gestärkt.
Diese Organisation war entscheidend für die Wahl von Präsident Lula und sein Wahlsieg war ein wichtiger Meilenstein im internationalen Kampf gegen die Offensive der extremen Rechten. Wir haben an diesem Sieg mitgewirkt und ihn in der Tat mitgestaltet. Und wir unterstützen alle Initiativen der Regierung zur Bekämpfung von Hunger, zur Bekämpfung von Armut und zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und für die Reindustrialisierung des Landes auf neuen und nachhaltigen Grundlagen. Präsident Lula steht vor vielen Herausforderungen und Hindernissen und weiß, dass nur die Mobilisierung und Beteiligung der Bevölkerung als ganzer die strukturellen Veränderungen herbeiführen kann, die unsere Gesellschaft so dringend braucht.
In diesen vier Jahrzehnten haben wir unzählige Versuche erlebt, den sozialen Kampf zu kriminalisieren. Keine Organisation hat so viele Drohungen seitens Parlaments-Kommissionen erfahren, die von konservativen Kräften eingesetzt wurden. Wir freuen uns und wir sind dankbar für die Solidarität, die wir angesichts des gescheiterten Versuchs der bancada ruralista und der extremen Rechten erfahren durften, angesichts jener Versuche, uns zu kriminalisieren, indem sie eine parlamentarische Untersuchungskommission CPI gegen die MST einsetzten, und die auch versuchten, die Regierung Lula einzuschüchtern.
Wir sind extrem besorgt über die Eskalation der Konflikte auf dem Lande, die durch die Kriminalisierung und Ermordung von Quilombola-, von indigenen und von landlosen Bauernführern im ganzen Land gekennzeichnet ist.
Initiativen wie “Invasão Zero” fördern die Eskalation der Gewalt durch Milizen, die von Landbesitzern und von Sektoren der Agrarindustrie ausgeht, eine Gewalt, die der Verteidigung der Rückständigkeit und einer der höchsten Raten der Landkonzentration in der Welt dient. Wir sind solidarisch mit den Angehörigen derjenigen, die im Kampf um Land, um die Verteidigung der Güter der Natur und um die Anerkennung ihrer Territorien gestorben sind.
Als Förderin des Todes hat ddie bancada ruralista die ungebremste Freisetzung von Ackergiften verabschiedet, die haben indigene Ländereien angegriffen, sie haben Geld in falsche Lösungen für die Klimakrise gesteckt und sie haben den Putschversuch vom 8. Januar 2023 finanziert.
Wir sind besorgt darüber, dass das erste Jahr der Amtszeit der Lula-Regierung mit der gleichen Anzahl von Familien endete, die auf dem Land campieren wie zu Beginn seiner Amtszeit. Es gibt viele Möglichkeiten, diese historische Schuld zu lösen, sofern die Regierung entschlossen ist, gegen die Landnahme und die Agrarkonzentration vorzugehen, die Brasiliens Landstruktur seit jeher prägen.
Dies erfordert auch ein Budget für das Ministerium für landwirtschaftliche Entwicklung und für die Agrarreformbehörde INCRA, damit diese in der Lage seien, die öffentliche Politik für die Agrarreform im Jahr 2024 wieder aufzunehmen, und dergestalt reale Bedingungen für die Strukturierung und Stärkung der Organisation derjenigen bietet, die gesunde Nahrungsmittel produzieren, die die Natur pflegen und die soziale Gerechtigkeit fördern.
Die Agrarreform ist eine grundsätzliche und eine strategische Maßnahme, um verschiedene wirtschaftliche und soziale Probleme in unserem Land zu bekämpfen, wie die Zerstörung der Natur, wie die Abholzung der Wälder und wie den illegalen Bergbau, wie den Hunger, der das Leben von Millionen von Menschen zerstört, ebenso wie die Konzentration von Einkommen und Macht.
Deshalb setzen wir uns weiterhin für die Demokratisierung des Zugangs zu Land ein, wir setzen uns ein für den Schutz der Naturgüter und für die Gewährleistung der Rechte der Land-, Wasser- und Waldbevölkerung sowie der Gemeinden, damit diese die Ausübung der Autonomie in ihren Gebieten durchzusetzen vermöchten.
Wir bekräftigen unsere Verbundenheit mit dem brasilianischen Volk und für den Aufbau einer gerechteren und gleichberechtigteren Nation durch den Kampf und den Aufbau der Basisagrarreform. Mehr noch als die Demokratisierung von Land muss die Agrarreform vor allem gesunde Nahrungsmittel für uns alle produzieren, um das gesamte brasilianische Volk zu ernähren, wir müssen die Gemeingüter der Natur zu schützen und wir müssen ein würdiges Leben auf dem Lande aufbauen.
Wir setzen uns ein im Kampf gegen die Klimakrise, die von den Ländern des Globalen Nordens, den Reichen dieser Welt, den umweltverschmutzenden transnationalen Konzernen und von der Agrarindustrie verursacht wurde. Wir verpflichten uns, die Gemeingüter der Natur zu bewahren, und halten an unserem Ziel fest, 100 Millionen Bäume zu pflanzen, und wir fordern, dass sich die Regierungen zu einer Politik der Null-Abholzung und zu einer Politik der massiven Wiederaufforstung verpflichten.
Wir verpflichten uns, gegen alle Formen von Unterdrückung und Ungerechtigkeit zu kämpfen und wir werden unermüdlich gegen alle Formen von Rassismus, von Diskriminierung und von LGBT-Phobie vorgehen. Wir sind solidarisch und wir werden nicht schweigen angesichts des Völkermords am palästinensischen Volk in Gaza, der vom Staat Israel und den Vereinigten Staaten verübt wird, und wir schweigen auch nicht angesichts der rechtswidrigen Inhaftierung von Julian Assange, einem Aktivisten für die Demokratisierung der Information und einem Whistleblower über die Kriegsverbrechen der USA.
Zum Abschluß bestätigen wir unsere entschlossene Verbundenheit, so wie wir es seit 40 Jahren tun: Wir werden so lange kämpfen, bis die Übel der Latifundien aus unserer Gesellschaft verschwunden sind und mit ihnen alle Unterdrückung, das Elend, die Umweltzerstörung und der Hunger.
Wir wollen diese Verpflichtungen in unserem täglichen Kampf bekräftigen, vor allem aber auf unserem 7. nationalen Kongress, der im Juli dieses Jahres in der Hauptstadt Brasilia stattfinden wird.
Und wir laden das brasilianische Volk ein, unsere Kultur und unsere Produktion zu feiern und wir laden alle ein, sich über die Aktualisierung unseres Programms der Basisagrarreform zu informieren und darüber, was wir vorschlagen, um einen ländlichen Raum und ein Land mit einem würdigen und gesunden Leben aufzubauen!
Es lebe das brasilianische Volk! Lang lebe der Kampf des Volkes!
Kämpft, baut die Basisagrarreform auf!
Auf dem Weg zum 7. Nationalkongress der MST!
Escola Nacional Florestan Fernandes, Guararema, 27 de Janeiro de 2024.
Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra – MST

// Übersetzung: Christian Russau