Behördenbericht: Zahl der als kritisch einzustufenden Dämme und Staudämme in Brasilien um 129 Prozent gestiegen

Brasiliens Nationale Agentur für Wasser und sanitäre Grundversorgung (ANA) stellte den Bericht über die Staudammsicherheit 2019 vor.
| von Christian.russau@fdcl.org
Behördenbericht: Zahl der als kritisch einzustufenden Dämme und Staudämme in Brasilien um 129 Prozent gestiegen
Folgen des Dammbruchs von mariana. Verseuchter Fluss Rio Doce. Foto: christianrussau (2016)

Am Montag, den 31. August, veröffentlichte Brasiliens Nationale Agentur für Wasser und sanitäre Grundversorgung (ANA) den Bericht über die Staudammsicherheit 2019. Laut der neuen Erhebung kam es im vergangenen Jahr 2019 zu 12 Unfällen und 58 Vorfällen mit Staudämmen in insgesamt 15 brasilianischen Bundesstaaten. Zum Vergleich: Für das gesamte Jahr 2018 wurden zwei Zwischenfälle und drei Unfälle gezählt. In der nun herausgegebenen Jahresbilanz berücksichtigt die staatliche Agentur nicht nur die Bergbaudämme, wie die, die in Brumadinho und Mariana brachen, sondern auch die Wasserkraftstaudämme.

Laut dem neuen 2019er Bericht kam es im vergangenen Jahr zu einem Anstieg der Zahl der Staudämme, die laut Inspektionsbehörden in kritischem Zustand sich befinden und von daher besonders überwachungswürdig sind. Zählte der Jahresbericht 2018 noch 68 kritische Dämme, so zählt der nun vorgestellte 2019er Bericht insgesamt 156 kritische Staudämme und Bergwerksdämme in 22 Bundesstaaten auf, d.h. es gab einen Anstieg von 129%.

"Im Gegensatz zum Vorjahr gehören die meisten Staudämme in dieser Kategorie privaten Unternehmern (63%), aber es gibt auch öffentliche Staudämme im föderalen (10%), staatlichen (21%) und kommunalen (6%) Bereich", erläutert das ANA-Dokument. Von den 68 Staudämmen, die 2018 auf der Liste standen, wurden 44 gestrichen, weil sie laut der staatlichen Agentur nicht mehr so viele Risiken bergen, und 24 verbleiben in der Übersicht. Da es nun aber 2019 insgesaamt 156 kritische Dämme gibt, folgt daraus, dass in diesem Jahr 132 Staudämme und Bergwerksdämme neu als hochgefährlich eingestuft wurden.

Von den 156 in diesem Zustand katalogisierten als kritisch eingestuften Dammstrukturen befinden sich 81 im Bundesstaat Minas Gerais. 52% aller als Risiko behaftet kategorisierten Dämme des Landes befinden sich in diesem Bundesstaat.

Laut dem Bericht der staatlichen Agentur habe zwischen 2018 und 2019 die Anzahl der staatlich vorgeschriebenen Inspektionsmaßnahmen zur Sicherheit von Staudämmen um 135% zugenommen hat. Der Erhebung zufolge stieg die Zahl der Vor-Ort-Inspektionen von 920 auf 2.168, von denen 1.287 von landesstaatlichen Stellen und 881 von drei Bundesbehörden ANA, ANM und der Nationale Agentur für elektrische Energie (ANEEL) übernommen wurden. Laut RSB 2019 gibt es derzeit 33 Inspektionsbehörden für die Sicherheit von Staudämmen in Brasilien, die die von ANA in der Publikation zusammengestellten Informationen übermittelt haben. Der Bericht umfasst 19.388 Staudämme, die beim Nationalen Informationssystem für Staudammsicherheit (SNISB) registriert sind. Im Jahresbericht 2018 wurden 17.604 Strukturen registriert. Von diesen 19.388 ist laut dem ANA-Bericht über die Staudammsicherheit bei 41 Prozent der Dämme der Eigentümer nicht bekannt, bei 61 Prozent fehlten die entsprechenden Daten, um festzustellen, ob der Damm den staatlichen Dammsicherheitskriterien überhaupt unterliegt oder nicht, Punkte, den der Bericht selbst als noch verbesserungsbedürftig bezeichnet.

In der Statistik der Bruchgefahren unterscheiden sich Wasserkraftstaudämme deutlich von den der Bergwerksdämme. Tailings brechen statistisch zehn Mal häufiger. Brasilien hatte in den vergangenen Jahren zwei der größten dieser Brüche erleben müssen. Im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais ist am 25. Januar 2019 in der Nähe der Kleinstadt Brumadinho, rund 25 Kilometer südwestlich des Landeshauptstadt Belo Horizonte, ein Damm eines Rückhaltebeckens für die Erzschlammreste der Mine Corrego do Feijao gebrochen. 272 Menschen starben, aber so genau weiß das niemand bis heute, denn noch immer werden Menschen vermisst. Die Betreiberfirma von Mine und Rückhaltebecken, die brasilianische Bergbaufirma Vale, erklärte, in dem gebrochenen Becken hätten sich 11,7 Millionen Kubikmeter Erzschlammreste befunden. Nachdem der Damm des ersten Rückhaltebeckens gebrochen war, erreichte der Erzschlamm das nächstgelegene Rückhaltebecken und überflutete dieses. Der sich ins Tal ergießende Schlamm-Tsunami hatte unter anderem eine Betriebskantine mit sich gerissen, in der gerade viele Arbeiter:innen zu Mittag aßen. Busse, in denen Arbeiter:innen saßen, die von oder zur Betriebsschicht fuhren, wurden mitgerissen, mindestens ein Dorf wurde zerstört und auf hunderten Kilometern ist der vom Schlamm geflutete Fluss Paraopeba biologisch tot.

Das Alles erinnert an den Dammbruch von Mariana des Rückhaltebeckens Fundão, als dort 2015 bei der Mine Germano der Firma Samarco (im gleichanteiligen Besitz von Vale und BHP Billiton) der Damm brach. Millionen Kubikmeter an Bergwerksschlamm aus der Eisenerz-Mine der Firma Samarco und ein Tsunami aus Schlamm zerstörten mehrere Dörfer, Häuser, Schulen und Kirchen. Die Flüsse Rio Gualaxo do Norte, Rio do Carmo und Rio Doce wurden verseucht. Fischfang ist entlang der 680 Kilometer Flusslauf bis heute nicht möglich, ein Desaster für Tausende von Kleinfischer:innen, die damit ihren Lebensunterhalt bestreiten. Insgesamt starben 19 Menschen. Laut Erhebung der US-amerikanischen Beraterfirma Bowker Associates stellte die Katastrophe von Mariana einen Dreifach-Negativ-Rekord in der Geschichte des Bergbaus dar:
(1) Die Menge an ausgetretenem Schlamm: 32 bis 62 Millionen Kubikmeter,
(2) Die Größe des betroffenen Gebiets: 680 Kilometer Flusslauf,
(3) Die Schadenshöhe: 5 bis 55 Milliarden USD.

Im Jahr 2019 exportierte Brasilien mineralische Rohstoffe im Wert von etwa 25,8 Milliarden US-Dollar, allein etwa 22,7 Milliarden US-Dollar davon entfielen auf Eisenerz. Eisenerz dominierte demnach mit 87,79% den Export mineralischer Rohstoffe. Der Anteil des Eisenerzes lag bei 10,06% der Gesamtexporte (etwa 225 Milliarden US-Dollar) und lag somit – nach dem Sojakomplex an zweiter Stelle der brasilianischen Exporte. Das aus Brasilien nach Deutschland exportierte Eisenerz stellt derzeit satte 43 Prozent der deutschen Gesamteinfuhren von Eisenerz dar.

Es gibt in Brasilien zwei große Eisenerzlagerstätten. Das Quadrilátero Ferríferro („Eisernes Viereck“) liegt im Bundesstaat Minas Gerais zwischen den Städten Belo Horizonte, Congonhas, Ouro Preto und Santa Barbara. In dem rund 7.000 Quadratkilometer großen Gebiet lagern in der Erde Erzvorräte von rund zehn Milliarden Tonnen. Die zweite große Eisenerzregion Brasiliens befindet sich im Südosten des amazonischen Bundesstaats Pará. Dort in der Carajás-Mine sollen sich sogar rund 18 Milliarden Tonnen Eisenerz im Boden befinden. Von den Minen in Carajás oder in Minas Gerais wird das Erz per Bahn zu den Häfen transportiert. In Minas Gerais gibt es zudem die weltweit längste Erzpipeline, durch die das Erz unter enormen Wasserzusatz und Druck nach Ponta Ubu im Bundesstaat Espírito Santo gepumpt wird, wo es zu Pellets verarbeitet und mit Schüttguttankern in alle Welt geliefert wird.

Wegen der ausländischen Deviseneinnahmen wurde der Eisenerzbergbau und -export durch alle vergangenen brasilianischen Regierungen von Lula, Rousseff und Temer durch Steuererleichterungen und generell durch eine Politik der vereinfachten Explorationsgenehmigungen und laxerer staatlicher Kontrollen gefördert.

Der Unterschied zwischen der Extraktivismus-Politik der rechten Regierungen und dem Neo-Extraktivismus der linken Regierungen lag weniger in der unternehmensfreundlichen Deregulierung des Bergbausektors als eher in der Frage, wie die an den Staat geflossenen Royalties gesellschaftlich verteilt werden.

Denn der sogenannte Neo-Extraktivismus bedeutet oft nicht viel anderes als im Namen eines vermeintlich höheren Ziels – sozialer Inklusion – Exklusion und erhebliche Diskriminierungen an anderer Stelle in Kauf zu nehmen – und die Praxis der zerstörten Territorien vor Ort bleibt die gleiche. Der brasilianische Sozialwissenschaftler Henri Acselrad hat in diesem Zusammenhang den in Brasilien vielbenutzten Begriff „área de sacrifício“ geprägt, ein „Opfergebiet“, dessen Bewohner:innen nach Eindringen von Rohstoffan- und abbau meist in einer „área de poluição“ („Verschmutzungsgebiet“) leben. Die Folge in den „Opfergebieten“: Die oft stark gesundheitsgefährdenden Verschmutzungen durch Bergbau betreffen meist Wasserverschmutzungen, Freisetzung von Schwermetallen, Staub- und Schwebstoffbelastungen aller Art, Kontamination von Böden oder Rückgang von lokaler Biodiversität. Leidtragende sind Menschen und Tiere, die im betroffenen Einzugsgebiet leben. Oft werden lokale comunidades, deren Territorien in den Blick der extraktiven Industrien und damit zusammenhängender, staatlich geduldeter wie beförderter Landnahme geraten sind, bedroht und eingeschüchtert. Der Protest und Widerstand der von extraktiven Projekten betroffenen Bevölkerung wird oft kriminalisiert und die dort lebenden Menschen vertrieben, soziale und Umweltaktivist:innen ermordet.

Zudem setzten alle brasilianischen Regierungen weiter auf den Ausbau von Infrastruktur und Logistik, um einen reibungslosen und schnellen Abtransport der Bodenschätze via Straße, Schiene oder Fluss zu gewährleisten. Doch mit Jair Bolsonaro im Regierungssitz Planalto in Brasília haben sich die Bedrohungen der Territorien durch Bergbau-Extraktivismus massiv verschärft: Denn er hat ein Gesetz zur Freigabe von Bergbau auch in (bisher davon geschützten) Indigenen Territorien unterzeichnet, was eine neue Dimension des Angriffs auf Territorien durch Bergbau darstellt. Wer dabei auf der Strecke bleibt, sind die lokal betroffenen Anwohner:innen solcher Bergbaugroßprojekte, im Fall der Indigenen Territorien die Indigenen.

// christian russau