Agrarreform in Brasilien nahe dem Nullpunkt

Bolsonaro kürzt im INCRA-Haushalt die Mittel für die eigentliche Agrarreform, während die Entschädigungszahlungen für die Großgrundbesitzer:innen ausgeweitet werden sollen.
| von Christian.russau@fdcl.org
Agrarreform in Brasilien nahe dem Nullpunkt
So setzt Bolsonaro die Kürzungsaxt bei der Agrarreform an. Zeigerbild christianrussau
Die Regierung des rechtsextremen Jair Bolsonaro hat dem Kongress den geplanten Haushalt für die Agrarreformbehörde INCRA für das Jahr 2021 vorgelegt, in dem es zu starken Einschnitten bei den Agrarreformmaßnahmen, aber eine Ausweitung der Entschädigungszahlungen für Großgrundbesitzer:innen geben soll. Dies berichtet die Tageszeitung Folha de São Paulo unter Berufung auf eine Analyse der parlamentarischen Assistent:innen der Fraktion der Arbeiterpartei PT im brasilianischen Nationalkongress, die durch die INCRA auf Nachfrage der Folha-Journalist:innen bestätigt wurde.


Der Jahreshaushalt der Agrarreformbehörde INCRA für 2021 würde demnach zwar insgesamt um vier Prozent von 3,3 Milliarden Reais auf 3,4 Milliarden Reais (derzeit umgerechnet etwa 550 Millionen Euro) steigen, aber 66 Prozent (2,1 Milliarden Reais) entfielen dabei auf die Entschädigungszahlungen der Großgrundbesitzer:innen, die aus Enteignungsprozessen für die Agrarreform aus der Vergangenheit vor Gerichten nachträglich höhere Entschädigungsleistungen erstreiten. Während die Entschädigungszahlungen für die Großen auf Jahresbasis um 22 Prozent stiegen, würden laut Folha die staatlichen Programmmittel für technische Fachberatung der Agrarreform und Fortbildung in Agrarreform, in Anbau- und Landtitelrechtsfragen für die Kleinen um satte 99 Prozent gekürzt werden. Die INCRA-Programmmittel für die Anerkennung und künftige Homologation von Quilomboterritorien würden demnach um 90 Prozent gekürzt, die staatlichen Mittel für Kontrolle, Überwachung und befriedenden Lösungen von schwelenden Landkonflikten würden in dem Haushaltsentwurf der Bolsonaro-Regierung um 82 Prozent gekürzt, die Mittel für die Anerkennung von Ansiedlungen von Landlosen auf Gebieten, die rechtlich der Agrarreform zugeführt werden sollen, will Bolsonaro um 71 Prozent kürzen.


Während also die brasilianische Bundesregierung auf Anraten des starken Mannes in Grund- und Bodenfragen in der Bolsonaro-Regierung - Nabhan Garcia - zur Räumung von MST-Ansiedlungen die direkt dem Präsidenten unterstellten militärischen Einheiten der Força Nacional entsendet, soll die Agrarreform de facto durch Auhöhlen und Ausdünnen des finanziellen Spielraums der zuständigen Behörde auf Null zurückgeschraubt werden. Dies zeigt sich de facto an den Zahlen.


Im Rückblick der vergangenen 25 Jahre war es vor allem die Regierung von Luiz Inácio Lula da Silva, die die Agrarreform in Brasilien zahlenmäßig am meisten voranbrachte. Zwar erreichte auch die Regierung von Fernando Henrique Cardoso (1995-2002) in den Jahren 1997 und 1998 Höchstwerte mit 81.944 bzw. 101.094 angesiedelten Familien, doch die historischen Spitzenwerte erreichte die Lula-Regierung (2003-2010) in den Jahren 2005 (127.506 Familien) und 2006 (136.358 Familien). Während der Regierung von Dilma Rousseff oszillierten die Zahlen der Ansiedlungen im Rahmen der Agrarreform zwischen vergleichsweise bescheidenen 22.012 Familien (2011) und 32.019 Familien (2014).


Die Regierung von Michel Temer (2016-2018), der 2016 durch ein parlamentarisches Amtsenthebungsverfahren, den parlamentarischen Putsch gegen die gewählte Präsidentin Dilma Rousseff an die Macht in Brasília gelang, hatte als eine ihrer ersten Amtshandlungen das Agrarreformministerium aufgelöst und die Agrarreformbehörde INCRA (Instituto Nacional de Colonização e Reforma Agrária) direkt dem Präsidialamt der Casa Civil unterstellt. Im März 2018 wurde bekannt, dass die Umsetzung der Agrarreform in Brasilien und Michel Temer nahezu zum Stillstand gekommen war, bevor nun unter Bolsonaro der Nullpunkt erreicht wurde.



Durch Agrarreform angesiedelte Familien:

Jahr

Anzahl Familien

1994

58.317 Familien

1995

42.912 Familien

1996

62.044 Familien

1997

81.944 Familien

1998

101.094 Familien

1999

85.226 Familien

2000

60.521 Familien

2001

63.477 Familien

2002

43.486 Familien

2003

36.301 Familien

2004

81.254 Familien

2005

127.506 Familien

2006

136.358 Familien

2007

67.535 Familien

2008

70.157 Familien

2009

55.498 Familien

2010

39.479 Familien

2011

22.012 Familien

2012

23.075 Familien

2013

30.239 Familien

2014

32.019 Familien

2015

26.335 Familien

2016

1.686 Familien

2017

1.205 Familien

2018

- Stand Sept. 2020 lagen auf der Seite der INCRA keine Zahlen vor. Letzte Aktualisierung laut INCRA am 4. Feb. 2019

2019

- Stand Sept. 2020 lagen auf der Seite der INCRA keine Zahlen vor. Letzte Aktualisierung laut INCRA am 4. Feb. 2019

Zahlen: Agrarreformbehörde INCRA1

1Siehe http://www.incra.gov.br/pt/n%C3%BAmeros-da-reforma-agr%C3%A1ria.html