Indigene Völker Brasiliens: Genozid und Menschenrechte - Vom Figueiredo-Bericht 1968 bis heute

18.März 2014 19:00 Uhr Informations- und Diskussionveranstaltung mit Merong Santos Tapurumã (Pataxó), Jocelino da Silveira Quiezza (Tupinikim), Dr. Renate Gierus (COMIN), Hans Alfred Trein (COMIN - IECLB) und Christian Russau (FDCL, Moderation)
  • Wann 18.03.2014 von 21:00 bis 23:30 (Europe/Berlin / UTC100)
  • Wo FDCL, Gneisenaustr.2a, 10961 Berlin
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Ort: FDCL, Gneisenaustr.2a, Im MehringHof, Aufgang 3, 5. Stock, Kreuzberg, 10961 Berlin
Sprache: Portugiesisch mit Konsekutivverdolmetschung
Eintritt: frei
Eine gemeinsame Veranstaltung von Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst und FDCL im Rahmen der Nunca Mais-Brasilientage.

Indigene Völker Brasiliens: Genozid und Menschenrechte - Vom Figueiredo-Bericht 1968 bis heute
Als Anfang 2013 der Menschenrechtsverteidiger der Gruppe Tortura Nunca Mais aus São Paulo und Koordinator des Projektes Armazém Memória, Marcelo Zelic, im Museu do Índio in Rio de Janeiro verstaubte Akten durchforschte und merkte, was er da in den Händen hielt, war die Erstaunung nicht gering. Noch größer war das Erstaunen der Öffentlichkeit, als sie von dem Fund erfuhr: es war der seit Ende der 1960er Jahre unwiederbringlich zerstört geglaubte sogenannte Figueiredo-Report. Im Auftrag des Innenministers hatte der Staatsanwalt Jader de Figueiredo Correia Ende der 1960er Jahre 16.000 km zurückgelegt und über 130 Stationen der damaligen „Indianerschutzbehörde“ SPI besucht. Was er und seine Mitarbeiter_innen auf über 7.000 Seiten zusammentrugen, schockierte die Welt. Figueiredo sammelte Berichte von systematischer Folterung von Indigenen durch Farmer_innen und Angestellte der SPI. Die Indigenen galten im brasilianischen „wilden Westen“ und Norden nicht als vollwertige Menschen, sie wurden auf oft bestialische Art erniedrigt und versklavt. Die Gewalt gegen Indigene war aber nicht nur Willkür sondern auch zielgerichtet. Angestellte der SPI verkauften mit Strychnin vergifteten Zucker an Indigene und verteilten mit Pocken verseuchte Kleidung. Die Indigenen sollten nur schnell verschwinden, egal wie, egal wohin. Freies Land sollte entstehen für die Landwirtschaft. Dass dabei ganze indigene Ethnien komplett verschwanden, wurde billigend in Kauf genommen. Als der Report 1968 bekannt wurde, erregte er weltweit Aufsehen. Die SPI wurde aufgelöst und durch die FUNAI ersetzt. Doch bevor wirkliche Konsequenzen gezogen werden konnten, verschwand der Bericht. Angeblich fiel er einem Feuer zum Opfer; ein offenes Geheimnis, dass die damalige Militärdiktatur das Dokument verschwinden ließ. Die Expansion der Landwirtschaft ging ungestört weiter und auch die neue FUNAI legte den Farmern kaum Steine in den Weg.
Nun ist der Figueiredo-Report wieder da und gibt beredtes Zeugnis von dem Genozid, den das „grüne Wirtschaftswunder“ in Brasilien auch bedeutete. Notwendig ist, dass daraus juristische Konsequenzen gezogen werden. Dass Indigenen, die gewaltsam vertrieben wurden, ihr Land zurückgegeben wird. Dass die Verantwortlichen für den Genozid vor Gericht zur Rechenschaft gezogen werden.
Und es wäre wichtig und an der Zeit, den wiederentdeckten Report zum Anlass zu nehmen, um in der Agrarpolitik ebenso wie in der Landfrage umzudenken, und die Interessen von Menschen und Umwelt ins Zentrum zu stellen und nicht die Profite der Industrie.
Es sind die Indigenen, die Quilombolas, die Kleinbäuer_innen und -bauern, die Landlosen und Landarbeiter_innen ebenso wie die Flussanwohner_innen, die unter der Inwertsetzung des Landes und im Kampf um das Land zu oft das Nachsehen haben.
Und zurzeit verfolgt die im Kongress mächtigste Fraktion der ruralistas, der Großgrundbesitzer, einen beispiellosen Angriff auf indigene Rechte und indigene Territorien und indigenes Land. Der FUNAI soll die alleinige Kompetenz zur Kennzeichnung indigener Territorien entzogen und dem Kongress unterstellt werden.

50 Jahre nach Beginn der brasilianischen Militärdiktatur (1.April 1964) wollen wir gemeinsam mit unseren Referent_innen über die damaligen und heutigen territorialen und allgemein verfassungsrechtlichen Kämpfe der Indigenen in Brasilien diskutieren und Fragen stellen bezüglich der Gewalt gegen Indigene damals – und auch heute. Denn anhaltende Menschenrechtsverletzungen und Missachtung indigener Rechte deuten darauf hin, dass das Diktum “Nunca Mais” sich in Brasilien noch nicht vollständig bewahrheitet hat.

Die Referent_innen:
Merong Santos Tapurumã. (26) stammt ursprünglich aus dem Volk der Pataxó in Bahia. Seine Frau gehört zu dem Volk der Guaraní. Sie haben ein Kind und wohnen zurzeit in einem Lager in Erebango, im Norden von Rio Grande do Sul, einer Besetzung für die sie die Rückgabe des Indigenen Landes einfordern. Er wird zur Landfrage aus der Perspektive derer, die noch darum kämpfen müssen, berichten, sowie zum interkulturellen Dialog als Alltagserfahrung.
Jocelino da Silveira Quiezza (ca.30), gehört dem Volk der Tupinikim in Espírito Santo an. Die Tupinikim haben einen über 30 Jahre langen Kampf um die Rückgabe ihres Landes seitens des großen internationalen Konzerns Aracruz Celulose (heute Fibria) im Jahre 2011 erfolgreich abgeschlossen. Jocelino berichtet aus der Perspektive einer gelungenen Landrückgabe an die Indigenen und über die Geschichte dieses langen Kampfes sowie die jetzige Herausforderungen, zu definieren, wie dieses Land genutzt werden soll.
Hans Alfred Trein (COMIN – IECLB). Hans Alred Trein (60), Nachkomme deutscher Einwanderer in Brasilien (väterlicherseits 5. Generation; mütterlicherseits 3. Generation), Pfarrer in der IECLB mit Gemeindeerfahrung im Amazonasgebiet und im Süden, mit Postgraduierung in Leitura Popular da Bíblia, arbeitete sechseinhalb Jahre in entwicklungsbezogener Bildungsarbeit in der Ökumenischen Werkstatt in Kassel und war zehn Jahre lang in der Koordination im Indianermissionsrat der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien tätig.
Dr. Renate Gierus. Renate Gierus (47) hat ihr Doktorat in Feministischer Theologie gemacht. Gegenwärtig arbeitet sie als Pastorale und Programmatische Koordinatorin von COMIN (Indianermissionsrat) der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien, seit Juni 2011, mit Sitz in São Leopoldo, Rio Grande do Sul - Brasilien. Sie besucht die Arbeitsfelder und die Indigenen Dörfer, tröstet und ermutigt die Kolleginnen und Kollegen in ihrer Arbeit. Sie hilft ihnen auch in der Planung, im Monitoring und in der Auswertung ihrer Arbeit. Von 2007-2010 war Renate im Austausch mit Zentralamerika in Costa Rica als Pfarrerin tätig.

 

Siehe auch:
Straflager für Indigene im Namen der FUNAI von André Campos. Veröffentlicht in Brasilicum Nr. 232. Nunca Mais. Brasiliens vergessene Miltiärdiktatur.