„Fora Temer – Temer raus!“ Soziale Bewegungen rufen zum Kampf auf

Der politische Umsturz der letzten Monate hat in Brasilien nach der eingeleiteten Amtsenthebung von Dilma Rousseff (PT) Interimspräsidenten Michel Temer (PMDB) an die Macht gespült. Noch steht dessen Bestätigung im Amt durch den Senat aus, die provisorisch Regierenden drängen zur Eile. Die Abstimmung des Senats wird am 9. August, das rechtskräftige Ende des Verfahrens Ende August – nach der Olympiade in Rio de Janeiro - erwartet.
| von Uta Grunert
„Fora Temer – Temer raus!“  Soziale Bewegungen rufen zum Kampf auf
Soziale Bewegungen kämpfen gegen Temer Quelle: Frente Brasil Popular

Bündnisse der sozialen Bewegungen wie die Frente Brasil Popular[1] (Brasilianische Volksfront) FBP und Povo sem medo (Volk ohne Angst) haben sich zusammengetan, um gegen die Entmachtung einer gewählten Präsidentin Dilma Rousseff (PT) ohne Neuwahlen zu kämpfen, die sie als golpe (institutioneller oder kalter Putsch) bezeichnen. Wegen der fehlenden demokratischen Legitimierung erkennen sie den Machtwechsel nicht an und rufen zu Protesten und Widerstand auf. Das Bündnis umfasst Organisationen wie die Landpastorale der katholischen Kirche CPT, Juristenverbände, wie die Associação de Advogados da União pela Democracia, die Landlosenbewegung MST, die Bewegung der Staudammbetroffenen MAB, das Medienkollektiv Media Ninja, die Bewegung der Schwulen, Lesben und Transsexuellen ABGLT, Gewerkschaften wie die CUT, Umwelt- und Kleinbauernbewegungen wie Via campesina und Frauenbewegungen wie den Marcha Mundial das Mulheres.

Neben dem Verlust demokratischer Legitimität fürchten diese Gruppen einen Abbau der von ihnen in den vergangenen Jahrzehnten erkämpften sozialen Rechte. Große Teile der brasilianischen Volksvertreter*innen stehen für den Vormarsch evangelikaler Kräfte, die für eine reaktionär-konservative Politik eintreten. Frauenrechte, Religionsfreiheit, ein Recht auf freie Sexualität sowie Rechte von Minderheiten haben auf  ihrer Agenda keinen Platz.

In den Hauptstädten der Bundesstaaten kommt es immer wieder zu Demonstrationen gegen Temer, der im Falle einer Bestätigung der Amtsenthebung bis 2018 regieren dürfte. Im politischen Tagesgeschäft haben Mitglieder der sozialen Bewegung bereits ihren Rückzug aus Räten und Arbeitsgruppen angetreten, um ein Signal gegen die nicht akzeptierte Regierung von Temer zu setzen. Ihr Kampf gegen Rassismus, Gewalt und für ein gutes Zusammenleben (Bem Viver) könne einen institutionellen Putsch nicht mittragen. So hat z.B. die ANMB, die Vertretung afrobrasilianischer Frauen eine Stellungnahme[2] verfasst, die ihr Ausscheiden aus beratenden Funktionen erläutert.

Temer selbst nimmt als Interimspräsident keine Vertretungsrolle der gewählten Präsidentin ein, sondern baut die Machtzentrale um. Ganz im Sinne der alten Elite des Landes wurden als erstes Staatsangestellte mit einer Lohnerhöhung von 22% bedacht, während die Staatsverschuldung auf 170 Mrd.R$ in die Höhe geschraubt wird[3]. Eine erstaunliche Großzügigkeit angesichts der Rezession, unter der Brasilien leidet.

Es geht im politischen Verfahren des Impeachments allerdings längst nicht mehr um Korruptionsbekämpfung, sondern eher um Vertuschung derselben.  Temer, Cunha und andere mächtige Entscheidungsträger sind selbst der Bestechlichkeit angeklagt – im Gegensatz zu Dilma Rousseff. Durch ihre Ämter scheinen ihre Prozesse jedoch einstweilen zurückgestellt zu sein. Dafür sind die ersten Monate der Interimsregierung Temer geprägt von vier Rücktritten. Davon drei Minister einer Regierung, die sich ausschließlich aus älteren Männern weißer Hautfarbe mit wirtschaftspolitischem Schwerpunkt zusammensetzt. Alle weiteren gesellschaftsrelevanten Themen wurden eliminiert oder untergeordnet.

Der strategische Partner Deutschland hält sich bislang mit Kritik zurück (Pressekonferenz, 18.05). Politikberater in Berlin sprechen statt vom kalten Putsch von einem politischen Umschwung, den es zu nutzen gelte[4]. Nach ihrer Empfehlung sollen Themen wie die Initiative zur Cyberpolitik oder die Klimapolitik neu angegangen werden.

Diese unkritische Haltung kann das Brasilien-Netzwerk KoBra nicht einnehmen.  Das Amtsenthebungsverfahren ist zu deutlich von Eigeninteressen der Entscheidungsträger begleitet. Der Kampf dagegen dauert an.



[1] http://www.redebrasilatual.com.br/politica/2016/04/movimentos-sociais-e-centrais-sindicais-anunciam-lutas-e-reafirmam-que-nao-reconhecerao-governo-temer-7931.html

[2] http://www.amnb.org.br/noticias.asp?id=133#ancora

[3] http://www.nzz.ch/wirtschaft/wirtschaftspolitik/brasilianische-uebergangsregierung-schamlose-selbstbedienung-ld.87116

[4] http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2016A36_ilm.pdf