VW do Brasil kurz vor der Anklage wegen Kooperation mit Repressionsapparat?

Vom 1. bis zum 9.11. wird Lúcio Bellentani, Hauptbelastungszeuge gegen Volkswagen do Brasil in der Frage der Kollaboration der Konzerntochter mit der brasilianischen Militärdiktatur, in Berlin sein. Derweil wird die Staatsanwaltschaft in São Paulo in Kürze über die formelle Anklageerhebung gegen Volkswagen do Brasil entscheiden.
| von Christian Russau
VW do Brasil kurz vor der Anklage wegen Kooperation mit Repressionsapparat?
Lúcio Antônio Bellentani. Foto: Verena Glass

Das Jahr 2017 könnte für Volkswagen das Jahr der Anklage werden. Und gemeint ist damit nicht der sogenannte Diesel-Skandal, der seit geraumer Zeit die Öffentlichkeit beschäftigt. VW do brasil wird vorgeworfen, sich an der Verfolgung und Folter von Oppositionellen durch die damalige Militärdiktatur in Brasilien beteiligt zu haben. Noch in diesem Jahr will die brasilianische Staatsanwaltschaft darüber entscheiden, ob sie gegen den Konzern Anklage erheben wird. Auch der Abschlussbericht eines von VW eingesetzten Historikers, der die Vorwürfe ebenfalls untersucht und seinen Bericht im Sommer an VW übergeben hat, soll noch in diesem Jahr veröffentlicht werden. Es könnte für VW noch ein hartes Jahr werden.

Abendveranstaltung/Diskussion am 7. November 2017, ab 19.00 Uhr, Münzenbergsaal, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin

https://www.fdcl.org/event/vw-und-mercedes-benz-komplizen-der-militaerdiktaturen-in-brasilien-und-argentinien/

Presseinformationen zu Lúcio Bellentani und zum aktuellen Stand der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen Volkswagen do Brasil

Lúcio Antonio Bellentani (abstract)

Lúcio Antonio Bellentani arbeitete zwischen 1964 und 1972 bei Volkswagen do Brasil im Werk in São Bernardo do Campo als Werkzeugmacher. Er war Mitglied der Kommunistischen Partei Brasilien PCB und wurde an seinem Arbeitsplatz innerhalb des VW-Werks am 29. Juli 1972 um 23:30 Uhr verhaftet. Unter den Augen des VW-Sicherheitspersonals wurde er von Agenten des Militärregimes noch im Werk geschlagen. Laut Aussage Bellentanis hielt ihm der damalige VW-Sicherheitschef bei seiner Verhaftung eine Maschinenpistole in den Rücken. Vom VW-Werk in São Bernardo do Campo wurde Bellentani ins Folterzentrum DOPS verschleppt, wo er sechs Monate festgehalten wurde. Bellentani erlitt schwerste Folter. Bei VW wusste man um seine Verhaftung, teilte aber Bellentanis Ehefrau wochenlang nichts darüber mit, bis sie drohte, seine Papiere einzufordern, um damit Ansprüche geltend zu machen. Erst dann erfuhr sie, dass er im Folterzentrum DOPS gefangen gehalten wurde. Nach sechs Monaten Folter im DOPS wurde Bellentani ins Gefängnis Tiradentes verbracht, wo er noch ein Jahr inhaftiert blieb.

Die Anzeige gegen Volkswagen do Brasil wegen Kollaboration mit der brasilianischen Militärdiktatur

Lúcio Antonio Bellentani ist Hauptbelastungszeuge in der Anzeige gegen Volkswagen do Brasil, die 22. September 2015 vom brasilianischen Menschenrechtskollektiv „Fórum de Trabalhadores por Verdade, Justiça e Reparação“ („Arbeiterforum für Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung“), das sich aus Betroffenen, Gewerkschaftern, sozialen Bewegungen und Menschenrechtsgruppen zusammensetzt, gegen VW do Brasil bei der Staatsanwaltschaft von São Paulo eingereicht wurde.

Das Kollektiv erreichte mit dieser Anzeige, die erstmalig in der Geschichte Brasiliens von allen zehn brasilianischen Gewerkschafts-Dachverbänden gemeinsam mitunterzeichnet wurde, dass der zuständige Staatsanwalt Pedro Machado, zivilrechtliche Ermittlungen einleitete, um die Verstrickung des Konzerns in die Repression der brasilianischen Militärdiktatur zu untersuchen. Die Anzeige stützt sich auf Aussagen Betroffener, die diese vor den Wahrheitskommissionen getätigt hatten, sowie auf mehrere in Archiven aufgetauchte Fundstücke, die die Kollaboration von VW mit den Repressionsorganen belegen. In Kürze, so erklärte die Staatsanwaltschaft in São Paulo, werde sie die Ermittlungen abschließen und mitteilen, ob sie bei Gericht formell Anklage gegen Volkswagen do Brasil erheben werde.

Bei der Anzeige gegen VW do Brasil geht es vor allem um fünf Tatbestände:

1) Mitwirkung an Verhaftung von VW-Mitarbeitern?

Mitarbeiter von Volkswagen wurden in den „bleiernen Jahren“ Brasiliens, in denen die Repression der Militärdiktatur am brutalsten war, von Agenten des Militärregimes am Arbeitsplatz verhaftet, geschlagen und verprügelt. Dies geschah laut Betroffenenaussagen unter Aufsicht und Mitwirkung von VW-Sicherheitspersonal. Vom Betriebsgelände wurden die Betroffenen direkt ins Folterzentrum DOPS gebracht, wo sie oft mehrwöchige Folter erleiden mussten. Einer dieser Folterer war der berüchtigte und brutalste der brasilianischen Militärdiktatur, Sérgio Paranhos Fleury.

2) Beihilfe zur Folter?

VW wird vorgeworfen, Informationen und Berichte über Mitarbeiter an Repressionsorgane der Militärdiktatur übergeben zu haben, aufgrund deren erst die Verhaftung und spätere Folter erfolgte. Der von der Bundesstaatsanwaltschaft in São Paulo zum Fall beauftragte Gutachter Guaracy Mingardi bestätigte: „Der Werkschutz hat agiert, als wäre er ein verlängerter Arm der Politischen Polizei innerhalb des VW-Werkes.“ José Paulo Bonchristiano, „Mr. DOPS“, wie der Folterer im DOPS genannt wurde, sagte im Interview mit der ARD kurz vor seinem Ableben aus: „Alles, was wir von Volkswagen haben wollten, haben sie sofort gemacht. Zum Beispiel: Wenn ich nach einem verdächtigen Element gesucht habe, das ich dingfest machen wollte. Dann haben sie mir gesagt, wo ich es finde. Wir waren uns sehr nahe.“ Der von Volkswagen beauftragte Historiker Christopher Kopper gab gegenüber dem ARD-Fernsehteam seine Einschätzung ab: „Ich kann sagen, dass es eine regelmäßige Zusammenarbeit zwischen dem Werkschutz von VW do Brasil und dem Polizeiorgan des Regimes gab.“ Auch für Festnahmen auf dem Werksgelände sieht Kopper die Volkswagen AG in der Verantwortung: „Sie hat die Verhaftungen zugelassen. Möglicherweise hat sie auch durch das Mitteilen von Beobachtungen über das Verteilen kommunistischer Zeitschriften auch einen Beitrag dazu geleistet, dass diese Arbeiter überhaupt von der Polizei erfasst und von der Polizei überführt werden konnten.“

Wenn davon ausgegangen werden kann, dass den VW do Brasil-Verantwortlichen bekannt war, dass im DOPS gefoltert wurde, so muss die Frage vor Gericht geklärt werden, ob dies den Tatbestand der Beihilfe zur Folter darstellt. In Brasilien verhindert das noch immer gültige Amnestie-Gesetz von August 1979 die strafrechtliche Aufarbeitung der Taten der Militärdiktatur, aber Folter verjährt in Brasilien nicht, demnach der Tatbestand der Beihilfe zur Folter auch nicht. Der von der Staatsanwaltschaft São Paulo aller Wahrscheinlichkeit demnächst anberaumte Gerichtsprozess gegen Volkswagen do Brasil wird ein Verfahren des Zivilrechts sein, so dass das Amnestiegesetz hier nicht greift.

3) Schikane und Entlassungen von oppositionellen Mitarbeitern?

Volkswagen do Brasil wird zudem vorgeworfen, sog. schwarzer Listen über VW-Mitarbeiter erstellt und weiter gereicht zu haben, aufgrund deren die Mitarbeiter dann entlassen wurden und später aufgrund der Listen auch keine weiteren Anstellungen mehr fanden. Dieser in der Anzeige des Arbeiterforums „Fórum de Trabalhadores por Verdade, Justiça e Reparação“ ausführlich dargelegte Vorwurf bewog im Mai 2016 die Staatsanwaltschaft für Arbeitsfragen in São Bernardo do Campo sich ebenfalls in die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft São Paulo einzuschalten. Diese muss nun klären, ob es sich bei Erhärtung dieser Vorwürfe dabei um ein arbeitsrechtliches Vergehen oder um politisch motiviertes Handeln der Unternehmensverantwortlichen handelte, denn rein arbeitsrechtliches Vergehen verjährt in Brasilien nach bereits wenigen Jahren, politisch motiviertes Handeln jedoch nicht. Da es auch hier um ein zivilrechtlicher Verfahren geht, greift das Amnestiegesetz nicht.

4) Unterstützung des Folterzentrums Operação Bandeirante (OBAN), ab 1970 berüchtigt unter dem Namen DOI-CODI?

Die Anzeige fordert zudem eine Klärung der Vorwürfe, Volkswagen habe – so wie andere multinationale Konzerne in Brasilien – das berüchtigte Folterzentrum Operação Bandeirante (OBAN) unterstützt. Die Anzeige erwähnt die freiwillige Zurverfügungstellung von Fahrzeugen für das OBAN, das ab 1970 unter dem Namen DOI-CODI in São Paulo operierte und in dem laut neuesten Erkenntnissen 66 Menschen ermordet wurden. 39 von diesen starben dort unter den entsetzlichen Qualen der Folter. Von weiteren 19 Menschen ist ihr letztes Lebenszeichen, dass sie verhaftet und ins DOI-CODI gebracht wurden. Seither gelten sie als verschwunden. Einer der laut Presseberichten erwiesenen freiwilligen Finanziers des Folterzentrums DOI-CODI war das langjährige Mitglied des Prüfungsrats („Conselho Fiscal“) von Volkswagen do Brasil, João Baptista Leopoldo Figueiredo, der von 1948-1967 zudem Präsident der Deutsch-Brasilianischen Industrie- und Handelskammer São Paulo war, heute bekannt unter dem Namen AHK São Paulo.

5) Verschwörung und Mitwirkung am Militärputsch von 1964?

Das 1961 gegründete Forschungsinstitut Instituto de Pesquisas e Estudos Sociais (IPES) war von 1961 bis 1964 aktiv an der konspirativen Verschwörung gegen die demokratische Regierung von João Goulart beteiligt, was am 1. April 1964 im Militärputsch kulminierte. Laut Historikerrecherchen haben brasilianische und multinational tätige Unternehmen die Arbeit des IPES freiwillig und aus Überzeugung finanziell gefördert. Darunter soll sich neben vielen anderen Firmen auch Volkswagen befunden haben. Der langjährige Vorsitzende IPES war der bereits erwähnte João Baptista Leopoldo Figueiredo.

Des Weiteren fordert die Anzeige die gerichtliche Untersuchung der mutmaßlichen Zusammenarbeit von Industrie und Unternehmern, darunter Volkswagen do Brasil, mit der sogenannten Industriemobilisierungsgruppe GPMI des Industrieverbands FIESP in São Paulo- Im Jahr 2013 wurden in den Archiven des vormaligen Geheimdienstes Brasilien SNI Dokumente gefunden, die die Zusammenarbeit von Industrie und Unternehmern mit den brasilianischen Repressionsorganen nahelegen. Den als Verschlusssache deklarierten Dokumenten ist zu entnehmen, dass als Mittelsmänner und Finanziers für das GPMI Industrie- und Unternehmervertreter – unter ihnen auch Volkswagen sowie die heutige VW-Tochter Scania – tätig waren. Das GPMI habe dann zur Zeit der Militärdiktatur gemeinsam mit der Obersten Heeresschule Escola Superior de Guerra einen „militärisch-industriellen Komplex“ gegen den Widerstand aufgebaut, jener Escola Superior de Guerra, in der die Prinzipien der Doktrin der nationalen Sicherheit festgelegt wurden, die als vorrangiges Ziel die Bekämpfung der Linken, die „Eliminierung der ›inneren Feinde‹“ hatte. Es gibt die Dissertation des Historikers Jean-Claude Silberfeld, der den Vorwurf erhebt, Volkswagen do Brasil habe gegenüber dem GPMI mündliche Zusagen über Zahlungen geäußert.

Jüngste Entwicklungen in der Causa „Volkswagen do Brasil und Kollaboration mit der brasilianischen Militärdiktatur"

Der von Volkswagen im November 2016 mit den Recherchen zur Frage der Kollaboration von VW do Brasil mit der Militärdiktatur beauftragte Historiker Christopher Kopper erklärte laut Berichten der ARD-Dokumentation „Komplizen? - VW und die brasilianische Militärdiktatur“ (Erstausstrahlung 24.07.2017 | 45 Min), er habe im Juli dieses Jahres seinen 125-seitigen Abschlussbericht an VW in Wolfsburg übergeben. VW teilte mit, den Bericht zu prüfen und diesen bis Jahresende zu veröffentlichen.

Quellen zum Nachlesen: