"Streng geheim!" – Streit um Öffnung der Geheimarchive in Brasília

<strong>Brasília.</strong> Der seit Jahren schwelende Streit um die Öffnung der noch geheimen Regierungs- und Militärakten in Brasilien geht in eine neue Runde. Brasiliens Ex-Präsident von 1985 - 1990, José Sarney, sprach sich gegen die uneingeschränkte Veröffentlichung aller brasilianischen Geheimakten aus. "Die komplette Öffnung, nein", so der Ex-Präsident gegenüber der staatlichen Nachrichtenagentur <a href="http://agenciabrasil.ebc.com.br/noticia/2011-06-13/sarney-diz-que-divulgar-documentos-ultrassecretos-pode-%E2%80%9Cabrir-feridas%E2%80%9D">Agência Brasil am Montag</a>. José Sarney übte seine Kritik anläßlich des Plans der Regierung Dilma Rousseffs, alle Akten der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Für José Sarney hingegen berge die Veröffentlichungmachung historischer Dokumente die Gefahr, dass "Wunden aufreissen würden", so die Agência Brasil.
| von Christian Russau

Angesichts des von Sarney und einem weiteren Ex-Präsidenten, Fernando Collor, ausgeübten Druckes würde die Präsidentin Rousseff derzeit überlegen, die im Senat zur Entscheidung anhängige Öffnung der Geheimarchive im Sinne der beiden Ex-Präsidenten dergestalt zu ändern, dass weiterhin für als besonders sensibel erachtete Dokumente die Möglichkeit einer ewigen Sperre gegeben sein müsste. Dies berichtet die Tageszeitung Estadão ebenfalls in ihrer Montagausgabe .


Dilma Rousseffs eigentlicher Plan war, dem Verschluß geheim zu haltender Akten maximal eine Verlängerungsoption zu gewähren. Demnach hätten als sensibel erachtete Dokumente, die die "nationale Sicherheit" vermeintlich gefährden könnten, maximal bis zu 50 Jahre unter Verschluß bleiben können. Nun aber scheint die Präsidentin sich dem Druck ihrer Kritiker zu beugen, wie der Estadao berichtet.

Hintergrund des Streits um die Öffnung der geheimen Akten Brasílias ist der seit Jahren von Angehörigen verschwundener und ermordeter Gegner der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985) geführte Kampf um Offenlegung aller geheimen Informationen, die seit dem Ende der Militärdiktatur noch immer in den geheimen Archiven Brasiliens schlummern. Über einen länger als 26 Jahre währenden Zeitraum hatten die Angehörigen von Verschwundenen der Guerrilha do Araguaia gegen den brasilianischen Staat juristisch geklagt, um das Schicksal der seit 1974 verschwundenen Mitglieder der Guerrilha aufzuklären.

Die Guerrilha do Araguaia war Anfang der 1970er Jahre von Mitgliedern der damals verbotenen Kommunistischen Partei von Brasilien, PC do B, gegründet worden und operierte bis Ende 1974 im Grenzgebiet der damaligen brasilianischen Bundesstaaten Pará, Maranhão und Goiás - also auf dem Gebiet des heutigen Bundesstaat Tocantins. Deren geschätzte siebzig bis achtzig Mitglieder sowie eine unbekannte Zahl von BewohnerInnen der Region, denen das Militär "Kollaboration mit den Subversiven" vorgeworfen hatte, sind seither verschwunden. Das brasilianischen Justizministerium legte im Jahre 2004 einen offiziell als "abschließend" deklarierten Bericht vor, nach welchem 71 Personen als "verschwunden" gelten und deren sterbliche Überreste bis heute nicht gefunden wurden.

Die Angehörigen der Verschwundenen der Guerrilha do Araguaia fordern von der Regierung die Lokalisierung und Öffnung der Akten, um Aufschluss über das Schicksal dieser seit nahezu 40 Jahren Vermissten zu finden. Der Prozess um die Freigabe der Dokumente und die Aufklärung um den "Verbleib" der Verschwundenen wird seit dem Jahr 1982 von 22 Angehörigen geführt. Der brasilianische Staat beteuerte stets, keine diesbezüglichen Akten zu besitzen, da diese von Seiten der Militärs vernichtet wurden und demnach eine weitere Klärung der Umstände des Verschwindens nicht möglich sei.

Doch im März 2008 veröffentlichte die Nachrichtenagentur Agência Estado ein Dokument aus dem Privatbesitz eines ehemaligen Oberleutnants, das den dem Militär angewiesenen allgemeinen Durchsuchungs- und Haftbefehl der mutmaßlichen UnterstützerInnen der Guerrilha do Araguia in der Region zeigt. In dem Dokument werden 17 Bauern namentlich genannt und nach abgestuften "Verwicklungsgraden mit der bewaffneten Guerrilha" klassifiziert. Der Oberleutnant selbst, José Vargas Jiménez, berichtete im Interview als erster ehemaliger Militär über die Aktion und den "Verbleib" der Guerrilha. Er selbst war verantwortlich - so die Agentur - für die Exekution von 32 Guerrilheiros der Araguaia und sagt: "Der Befehl war, erst zu schiessen und dann zu fragen. Wir gingen da rein, um zu töten, zu zerstören. Es ging nicht darum, Gefangene zu machen."

Die KlägerInnen sahen sich durch das Auftauchen dieses Dokuments in ihrem Verdacht bestätigt, dass sehr wohl noch Dokumente existieren, und sehen den Staat in der Pflicht, die Archive auf entsprechende Dokumente zu durchsuchen, und kritisieren, dass der von der Regierung bevorzugte Weg des "guten Dialogs" mit den Militärs nicht ausreiche und fordern die Öffnung und Einsicht in alle Archive. Die Präsidentin der Menschenrechtsorganisation "Tortura Nunca Mais" in Rio de Janeiro, Elizabeth Silveira, erklärte 2008 die komplette Öffnung der Archive für essentiell: "Die Öffnung der Archive ist fundamental. Wann werden wir die Informationen bekommen, die uns zustehen? Wir sind das rückständigste Land Südamerikas in der Aufarbeitung der Erinnerung."

21 Jahre nach Prozessauftakt gab im Jahre 2003 eine Richterin in Brasília dem Staat 120 Tage Zeit, um den Verbleib der Verschwundenen zu klären und die entsprechenden Archive zu lokalisieren und freizugeben. Gegen diese Entscheidung hatte die Regierung Widerspruch eingelegt, aber der oberste brasilianische Gerichtshof, der Supremo Tribunal Federal, bestätigte im Dezember 2007 abschließend das Urteil, dass den brasilianischen Staat zur Lokalisierung und Öffnung der Dokumente verpflichtet. Da aber der Verbleib oder aber die vermeintliche Zerstörung eines großen Teils dieser Akten nach wie vor nicht restlos geklärt war, hatte - zum Ablaufen der 120 Tagefrist - im März 2008 die brasilianische Anwaltsvereinigung OAB - Ordem dos Advogados do Brasil - eine Klage vor dem Obersten Militärgericht, Superior Tribunal Militar, eingereicht, um den Verbleib der Dokumente zu klären und - für den Fall, dass diese zerstört worden sind - Klage gegen die verantwortlichen Militärangehörigen wegen Unterschlagung und Vernichtung offizieller Dokumente einzureichen. "Das Unterschlagen dieser Dokumente darf nicht ohne Untersuchung bleiben", bekräftigte der Präsident der brasilianischen Anwaltsvereinigung, Cezar Britto, und ergänzte, dass die Unterschlagung der Dokumente deswegen auch militärstrafrechtlich relevant ist, "weil sie nicht durch das seit 1979 gültige Amnestiegesetz gedeckt ist, da die Tat später verübt wurde".

Die Angehörigen der Verschwundenen und Menschenrechtsorganisationen bezweifeln zudem grundsätzlich, dass alle Unterlagen vernichtet wurden. So hatten im Juli 2007 Recherchen der brasilianischen Zeitung Correio Braziliense ergeben, dass ein der Öffentlichkeit bis dato nicht bekanntes geheimes Archiv in den Kellern des brasilianischen Aussenmisteriums lagerte - mit brisanten Unterlagen und Dossiers aus der Zeit der Militärdiktatur, erstellt von den brasilianischen DiplomatInnen und Botschaftsangehörigen im Ausland. Das vom Aussenministerium Itamaraty geleitete "Centro de Informações do Exterior" (Ciex) fungierte zwischen 1966 und 1985 als "Informationsagentur zur Überwachung der Gegner des Militärregimes im Ausland" und führte Akten sowie an die 8.000 Berichte über potentielle brasilianische RegimegegnerInnen im Ausland. Die Tochter des 1973 in der Araguaiaregion verschwundenen Maurício Grabois', Vitória Grabois, wies 2008 angesichts des "gefundenen" Archivs mit Nachdruck darauf hin, dass die Entdeckung dieses Geheimarchivs des Itamaratys die Vermutung nahelege, dass die angeblich zerstörten oder verlorenen geheimen Archive der Marine, des Heeres, der Luftwaffe oder der Bundespolizei vielleicht doch noch existierten. Zwar hatte die zentrale Informationsorganisation der brasilianischen Repression der Militärdiktatur, der Geheimdienst Serviço Nacional de Informação (SNI), beim Übergang zur Demokratie Schätzungen zufolge die Vernichtung von vier Millionen Dokumenten angeordnet. Das Archiv des Ciex wurde, im Gegensatz zu vielen anderen Archiven, nicht zerstört. Da liegt die Vermutung nahe, dass auch noch andere "geheime" Archive existieren.

Nach dem Übergang zur Demokratie war vom Staat angeordnet worden, dass die verbliebenen Dokumente der Repression aus allen Archiven übergeben und zentral gesammelt werden müssen. Dass dies bei den einzelnen Institutionen nicht so genau gesehen wurde, davon zeugt nicht nur das Auftauchen des Archivs des Ciex, sondern auch schon die Archivverbrennung auf dem Luftwaffenstützpunkt Base Aérea de Salvador bereits im Dezember 2004. Das Fersehmagazin Fantástico des Senders Rede Globo hatte Aufnahmen der teilweisen Verbrennung von über 70 Meter Akten im Sonntagabendprogramm gezeigt. Zuvor hatte die Militärbasis immer behauptet, alle Unterlagen wären bei einem Brand 1998 auf dem Flughafen Santos Dumont in Rio de Janeiro vernichtet worden. Während die erste Untersuchung der brasilianischen Bundespolizei im Jahr 2005 "keine Hinweise" auf das Verbrennen "geheimen Materials" zu finden vermochte, fand die Untersuchung des Kriminalinstituts der Polícia Civil des Bundesdistrikts sehr wohl dahingehende Hinweise, so dass im späteren Bericht der Bundespolizei nun davon ausgegangen wurde, dass die Dokumente "vermutlich von einer Quelle außerhalb der Militärbasis" dorthin verbracht wurden.

Diese Verbrennung von Dokumenten offenbarte, dass offensichtlich entgegen der Anordnung, alle Dokumente aus der Zeit der Militärdiktatur zentral zu verwahren, Teile des Militärs - oder mittlerweile pensionierte ehemalige Militärangehörige - nicht daran dachten, "ihre" Dokumente aus der Hand zu geben. So kann es keineswegs als sicher gelten, dass nicht noch unzählige weitere Dokumente aus der Zeit der Militärdiktatur in Kasernen, anderen Militärstützpunkten oder gar "privat" aufbewahrt werden. Der Minister für Menschenrechtsfragen, Paulo Vannuchi, räumte im September 2007 im Interview mit Radiobrás ein, dass "die Militärorgane des Heeres, der Marine und Luftstreitkräfte bislang noch immer keine Dokumente übergeben haben" und zudem die Vermutung naheliege, dass "sich viele Dokumente in privaten Händen von ex-Militärs befinden".

Seit 2005 fungiert eigentlich das neugeschaffene Nationalarchiv als zentrale Sammelstelle für alle Dokumente aus der Zeit der Militärdiktatur. Das Archiv steht unter der Aufsicht des Präsidialamts  Casa Civil und führt, laut Auskunft des Generaldirektors des "Arquivo Nacional", Jaime Antunes, einen Bestand aus Zeiten der Militärdiktatur von 13 Millionen 850 Tausend Seiten. - Doch der im Namen des Archivs anklingende Anspruch, "Memórias Reveladas", wird so nicht eingehalten. Denn nicht nur die bisher kaum erfolgte Kooperation seitens des brasilianischen Militärs, Akten und Dokumente aus der Zeit der Militärdiktatur zu übergeben, sondern auch die gültigen Klassifizierungsgesetze verhindern nach wie vor die Einsicht in als "geheim" eingestufte Dokumente.

Denn obschon die brasilianische Verfassung von 1988 in Artikel 5 das Recht des Bürgers auf Zugang zu Dokumenten verbürgt, verhindert nach wie vor die Klassifizierung der Dokumente den unbeschränkten Zugang. Die Regierung Fernando Henrique Cardoso hatte noch im letzten Regierungsmonat, im Dezember 2002, die Sperrfrist für "streng-geheime" Dokumente auf 50 Jahre hochgesetzt. Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hatte am 18. November 2005 öffentlichkeitswirksam das Dekret N° 5.584/05 erlassen, welches der "Öffnung" der Archive aus der Zeit der Militärdiktatur dienen sollte - und die neuen Sperrfristen für "streng-geheime" Dokumente wieder "nur" auf 30 Jahre taxiert, "geheime" Dokumente verbleiben demnach 20 Jahre und "vertrauliche" Dokumente zehn Jahre lang verschlossen. Zwar hatte die Regierung Lula damit eine Strategie der Öffnung verfolgt, diese aber gleichzeitig wieder eingeschränkt, indem nach Ablauf der Sperrfrist erneut über den Verschluß bestimmt werden kann: So verfällt zwar nach 30 Jahren die Geheimhaltung, doch kann aus Gründen "nationalen Interesses" diese Frist nach Ablauf wieder um 30 Jahre verlängert werden, bevor sich dann - nach insgesamt 60 Jahren - eine "inter-ministerielle Kommission" darüber verständigen soll, ob die Dokumente freigegeben werden - oder eben nicht.

Die Menschenrechtlerin Elizabeth Silveira kritisierte bereits 2008, dass das Dekret zur Archivöffnung aus dem Jahre 2005 durch das Gesetz N° 11.111/05 - ebenfalls durch den Präsidenten Lula unterzeichnet - konterkariert werde, da laut jenem all jene Dokumente, die die "Souveränität, die territoriale Integrität oder die Außenbeziehungen" Brasiliens beeinträchtigen könnten, weiterhin unter Verschluss gehalten werden. So gibt es, wie die Folha de São Paulo schon im Jahr 2004 herausfand und in ihrer Ausgabe vom 30. Dezember 2007 erneut berichtete, noch immer als "streng-geheim" klassifizierte Dokumente aus der Zeit des brasilianisch-argentinischen-uruguayischen Krieg gegen Paraguay (1864-1870), die die im Anschluß an den Krieg getroffenen Grenzziehungen betreffen. In diesem Krieg starben über zwei Millionen Menschen, und Paraguay musste in Folge der Niederlage 144.000 km², etwa die Hälfte seiner Fläche, an Brasilien und Argentinien abtreten. Die Folha de São Paulo mutmaßte schon vor Jahren, dass die brasilianische Seite im Anschluss an den Krieg im Jahre 1870 die neuen Grenzziehungen durch Bestechung zu Brasiliens Gunsten beeinflussen konnte - eine Methode, der sich auch Argentinien bedient hätte.

Die Paraguayische Akademie für Geschichte (Academia Paraguaya de História) forderte daraufhin schon Ende 2004 die Öffnung dieser Archive. Doch die brasilianische Regierung, vornehmlich das Aussenministerium Itamaraty, verweigert dies stets mit dem Hinweis, die Veröffentlichung dieser Archive könnte "das gute Einvernehmen sowie den aktuellen guten Geist der Kooperation im MERCOSUR" gefährden - ein Argument, das Paraguay als "absolut unangemessen" beurteilte.

Laut der Folha de São Paulo kam es im Dezember 2007 - im Zuge der aktuell geführten Auseinandersetzung um die nach wie vor mangelhafte Öffnung der geheimen Archive Brasiliens - sogar innerhalb der brasilianischen Regierung zum Streit über die als "streng-geheim" deklarierten Dokumente. Der brasilianische Außenminister, Celso Amorim, widersetzte sich der Aufforderung seiner Kabinettskollegin Dilma Rousseff vom Präsidialamt, der Casa Civil, die Archive zu öffnen, da das Außenministerium fürchtet, dass die Offenlegung dieser Dokumente von 1870 "nationale Interessen" tangieren könnte - ein Indiz für die Glaubhaftigkeit der Vermutung, in den geheimen Archiven Brasiliens fänden sich Hinweise über die Vorgänge bei der Grenzziehung nach dem Krieg mit Paraguay, die belegen könnten, wie sich Brasilien paraguayisches Territorium aneignete. Präsident Lula hatte für Anfang 2008 - für "nach dem Karneval" - angekündigt, eine Entscheidung bezüglich der Offenlegung aller historischen Dokumente zu treffen. Diese Entscheidung ist noch immer anhängig – so dass es nun, im Jahre 2011, seiner Nachfolgerin auf dem Präsidentenamt, Dilma Rousseff, obliegt,das Problem anzugehen. Nun muss der Senat entscheiden. Werden die Archive nun geöffnet – oder bleibt alles beim Alten: "Streng geheim!" - seit dem Krieg mit Paraguay?