Menschenrechte Brasilien: Situation indigener Völker

Zum 1. Runden Tisch Menschenrechte Brasilien hatte das Auswärtige Amt Ende April Vertreter*innen der Zivilgesellschaft eingeladen. KoBra dokumentiert einen Beitrag von Tina Kleiber, der Brasilienreferentin von Brot für die Welt zur Situation indigener Völker in Brasilien.
| von Tina Kleiber, Brot für die Welt
Menschenrechte Brasilien: Situation indigener Völker
Indigenenprotest in Brasilia: Acampamento Terra livre

Vielen Dank für die Einladung und die Gelegenheit zur Darstellung der Indigenenrechte in Brasilien. Die aktuelle Situation indigener Völker in Brasilien kann nur als dramatisch bezeichnet werden. Deshalb befinden sich derzeit auch Tausende Indigene in Brasília im „Acampamento Terra Livre“, um ihren Protest kundzutun.

Entgegen der in der Verfassung von 1988 verankerten Rechte auf Selbstbestimmung, Land und Schutz,  ist die vorgefundene Realität die einer massiven Bedrohung und Gewalt gegen Indigene, mindestens aber die völliger Gleichgültigkeit gegenüber ihren prekären Lebensbedingungen.

Zuletzt hat die UN-Sonderbeauftragte für die Rechte indigener Völker, Vicky-Tauli  Corpuz, bei ihrem Brasilienbesuch  2016 die Menschenrechtsverletzungen gegenüber Indigenen dokumentiert und eine weitere Verschlechterung der Lage beschrieben, verglichen mit dem Besuch ihres Vorgängers 2009.

Die Berichte machen vor allem eines deutlich: Die fehlende Sicherung der Landrechte von Indigenen führt immer wieder zu Konflikten, gefährdet die Existenz Indigener und setzt sie Gewalt aus.

Zu dem mangelnden Schutz vor Gewalt und Schutz des Lebens Indigener, kommen verschärfend die fehlende Aufklärung von Straftaten sowie die fehlende  Strafverfolgung der Täter hinzu.

Ferner wird ihr Recht auf Anhörung und informierte Zustimmung (Free Prior informed consent) wie sie die ILO 169 vorsieht,  bei Projektvorhaben systematisch verletzt.

Ebenfalls verletzt wird ihr Recht auf Zugang zu Nahrung und adäquate Ernährung sowie ihr Recht auf Selbstbestimmung.

Diese Rechtsverletzungen haben sowohl nationale als auch UN-Instanzen in ihren Berichten ausführlich dokumentiert und deshalb entsprechende Empfehlungen zum dringenden Schutz Indigener formuliert und ihre Umsetzung wiederholt angemahnt.

Partnerorganisationen von Brot für die Welt und Misereor

Auch die Partnerorganisationen von Brot für die Welt, Misereor und anderen Hilfswerken erleben Diffamierung, Bedrohungen und Kriminalisierung. Sie berichten von gewaltsamen Übergriffen gegenüber Indigenen  aufgrund von ungelösten Landkonfliktfällen im Süden des Landes  (Rio Grande do Sul, Santa Catarina und Paraná), in Bahia, São Paulo und Pernambuco.

In Amazonien  berichten sie von Konfliktfällen aufgrund illegaler Abholzung (Pará, Rondônia) und besonders dort, wo die industrielle Landwirtschaft zunehmend expandiert und Futtermittel und Treibstoff produziert, die einhergehen mit dem Bau entsprechender  Infrastrukturprojekte wie Bundesstraßen (BR-163 ), Häfen, Kanälen, etc. durchsetzt. Besonders besorgniserregend ist hier die Expansion der Agrarflächen Richtung Cerrado im Rahmen von  MATOPIBA.

Besonders eklatant waren in den letzten Jahren die Verletzung bereits ausgewiesener indigener Landrechte (TIs) - bzw. die indirekten Folgen für Indigene - dort, wo Großprojekte geplant, bzw. umgesetzt werden. Bekanntestes Beispiel ist der Belo Monte Staudamm am Xingu, dessen Bau inzwischen gerichtlich für unzulässig erklärt wurde. Aber es betrifft auch die Vorhaben am Tapajos, deren Folgen auch nach der Absage des Staudammprojekts nachwirken (aktuell:  Projekt Kanalbau, Gesetzesvorhaben  PDL 118-120). Auch von  Rohstoffprospektionen (z.B. Gold am Xingu) bzw. Vorhaben zur Ausbeutung von Bodenschätzen, inklusive deren Pipelines, berichten unsere Partner mit Sorge.

Und nicht zuletzt geben die gravierenden Folgen für die Ernährungssicherheit indigener Gemeinschaften Anlass zur Besorgnis. Der Fall der Guarani-Kaiowá in Mato Grosso do Sul ist einer dramatischsten und inzwischen mit am besten dokumentierten Fälle: hier wird bereits von einem Genozid gesprochen und der Fall wurde deshalb jüngst im EU-Parlament und vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission vorgestellt. Aus Zeitgründen gehe ich auf den Fall nicht weiter ein, aber ein Fact Sheet zu dem Fall liegt hier aus.

Verantwortung des Staates

Der  brasilianische Staat garantiert nicht den Schutz der indigenen Bevölkerung und die Durchsetzung von deren Landrechten gegenüber wirtschaftlichen Interessen, so wie es die Verfassung vorsieht.

Doch seit 2014 gibt es noch eine massive Verschlechterung  der Lage: Auf verschiedenen Ebenen werden Landansprüche als illegitim dargestellt und bereits erteilte Landrechte werden wieder in Frage gestellt.

Wie Frau Kofler eingangs bereits erwähnte, ist die staatliche Indigenenbehörde  FUNAI - die Behörde die in Brasilien die Rechte Indigener wahren soll - durch Umstrukturierungen, Personal-  sowie Budgetkürzungen strukturell geschwächt. Es ist zu befürchten, dass deren Funktionieren praktisch verunmöglicht wird. Als wäre das nicht genug, gibt es eine Untersuchungskommission gegen die FUNAI - ausgehend von Großgrundbesitzern der entsprechenden Parlamentsfraktion - die ihre Autorität und ihr Handeln in der Einrichtung von Indigenengebieten in Frage stellt und sie kriminalisiert.

An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass der Schutz für Menschenrechtsverteidiger*innen in Brasilien ohnehin schon mangelhaft ist. Nach Studie der NRO Global Witness von 2016 ist Brasilien mit 50 Morden im Jahr 2016 traurige Spitze.

Das UN-Hochkommissariat und die Interamerikanische Menschenrechtskommission haben Brasilien diesen Monat als einen der gefährlichsten Staaten für Menschenrechtsverteidiger*innen bezeichnet, insbesondere wenn diese sich für den Zugang zu Land, den Schutz der Umwelt, die Anerkennung indigener Rechte und den Kampf gegen sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse einsetzen, und deshalb den brasilianischen Staat aufgerufen, für deren Schutz zu sorgen.

1)Legislative und Exekutive

Mit dem parlamentarischen Putsch erlebt die brasilianische Demokratie derzeit eine tiefe Krise. Die organisierte Zivilgesellschaft verweist auf laufende Ermittlungen gegen den amtierenden Präsidenten Temer und seine Minister. Das aktuelle politische System befördert systematische Korruption, vertieft gesellschaftliche Ungleichheit und repräsentiert Indigene und andere Minderheiten in keinster Weise.

Die Politik der Übergangsregierung gefährdet soziale Errungenschaften besonders in den Bereichen soziale Sicherung, Partizipation, Armutsminderung, Ernährungssouveränität, Umweltschutz und Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung von Frauen. Durch die Interimsregierung verloren die Ministerien „Frauen“, „Anti-Diskriminierung“, „Jugend“, „Menschenrechte“ und „Ländliche Entwicklung“ ihren Status und große Teile ihres Budgets. Der öffentliche Haushalt wurde für 20 Jahre auf Niedrigniveau eingefroren und gefährdet damit existenzielle öffentliche Dienste. Maßnahmen, die die Ärmsten der Armen besonders treffen. Deshalb nennt der UN-Sonderberichterstatter für das Thema der extremen Armut und Menschenrechte, Philip Alston, die Haushaltspolitik Temers einen weltweit einzigartigen sozialen Rückschritt.

Die Regierung schränkt Grundrechte ein und kriminalisiert sozialen Protest insbesondere gegen Umwelt- und Agrarpolitik sowie gegen soziale Bewegungen, die sich für Indigene Landrechte  einsetzen. Sie tut dies mit unverhältnismäßiger Härte in Anwendung der neuen Gesetze zur „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ und des Anti-Terrorgesetzes.

Mühsam errungene Rechte Indigener werden  im Parlament durch Vorhaben wie die Verfassungsänderung PEC 215 (Übertragung Identifikation Landrechte auf Legislative) infrage gestellt. Die Geltendmachung von kollektiven Landrechten  wird durch Erlasse erschwert, wie die Medida Provisória de Regulação Fundiária  759, die die Landkonzentration fördert und die Umwandlung öffentlichen Landes in Agrar- und Bauland erleichtert.

Hand in Hand mit der Nicht-Ausweisung indigener Territorien geht die Rücknahme von Maßnahmen zum Wald- und Umweltschutz. Die aktuelle Regierung Temer stellt Schutzgebiete in Frage. Sie verkleinert sie und  legalisiert damit illegale Landnahme (MP 756, MP 758).  Auch Umweltverträglichkeitsprüfungen bei Großprojekten werden infrage gestellt PL 3.729/2004.

Doch damit nicht genug: Gewalt gegen Indigene wird befördert durch öffentliche Diskriminierung und Diffamierung indigener Völker seitens politischer Vertreter*innen. Indigene werden als Fortschrittsbremse tituliert, ihnen wird die Behinderung der Landwirtschaft vorgeworfen und sie werden verantwortlich gemacht für Energieengpässe  und die Wirtschaftskrise. Eine regelrechte Hetze geht aus von Parlamentariern und von staatl. Verantwortlichen mit Aussprüche wie: „…dann müssen sie auch an Malaria sterben“, wenn sie auf ihrer rückschrittlichen Lebensweise bestehen.

 

2) Justiz

Die Justiz hätte die Aufgabe, jahrzehntelang währende Landkonflikte im Sinne der Verfassung zu lösen und kollektive Rechte geltend zu machen. Sie hat aber wiederholt zugunsten der Interessen von Einzelpersonen entschieden und damit polizeiliche Räumungen begründet. Andersrum gibt es zahlreiche Fälle, wo in der Vergangenheit Recht zu Gunsten der Indigenen gesprochen wurde, aber der Nichträumung durch die unrechtmäßig besetzenden Siedler toleriert wird.

FIAN konstatiert die gewachsene politische Macht des Obersten Gerichtshofs (OGH), dessen jüngste Entscheidungen zur so genannten „Stichtagsregelung“ (Marco Temporal) die Grundrechte Indigener und traditioneller Gemeinschaften verletzen. Auch die Rechtsprechung von Serra Raposa do Sol, wo ein Einzelfallkompromiss verallgemeinert werden soll (Port.303/2012) geht in diese Richtung.

FIAN bezieht sich auf Fälle, in denen der OGH nicht einschreitet, wenn Indigene keine effektiven Kläger in Gerichtsprozessen sein können. Ferner auf Fälle, wo  der OGH die Kennzeichnung indigenen Landes und den Übertragungsprozess unterbindet. Und Fälle, wo der OGH das Individualrecht einer Person über das Kollektivrecht indigener Völker gestellt hat, was dann zu Räumungen geführt hat, noch bevor ein Prozess überhaupt abgeschlossen ist, wie zuletzt bei der gewaltsamen Räumung von Guarani-Kaiowá-Gemeinden 2016.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dem brasilianischen Staat der Schutz Indigener nicht gelingt, wohl aber die Durchsetzung von Großprojekten , auch in Krisenzeiten, wie die MATOPIBA-Agrarexpansion zeigt. Die Agrarindustrie ist derzeit der wichtigste Wirtschaftsmotor und das Agrarministerium ist als einziges nicht von den Ende 2016 beschlossenen Haushaltskürzungen betroffen.

Staatliche Menschenrechtsberichte für UPR und zum WSK-Pakt

Dieses Jahr stehen auf UN-Ebene zwei Prüfverfahren zur Menschenrechtsperformance Brasiliens an. Die brasilianische Regierung hat für den aktuellen UPR-Zyklus einen Bericht präsentiert, der völlig unzureichend eingeht auf die Kritik und die Handlungsempfehlungen der Berichte von 2008 und 2012. Auch der im September präsentierte  Bericht der UN-Sonderbeauftragten für die Rechte indigener Völker wird offensichtlich nicht ernst genommen.

Den anstehenden Bericht über die Achtung der WSK-Rechte hat die brasilianische Regierung erst gar nicht verfasst. Dennoch wird ein Schattenbericht von brasilianischen Vertreter*innen der Zivilgesellschaft  im Juni in Genf präsentiert werden.

Angesichts der beschriebenen Lage möchte ich seitens der Hilfswerke dringend an sie appellieren, auf diese Defizite im MR-Schutz hinzuweisen - insbesondere anlässlich des UPR-Verfahrens - und Schutz, Strafverfolgung der Täter und die Umsetzung der Rechte Indigener anzumahnen. Und in den Regierungsverhandlungen zu bedenken, dass Wirtschaftsbeziehungen, besonders im Agrar-, Technik- und Infrastrukturbereich im Kontext dieser Menschenrechtsverletzungen stattfinden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!