Häusliche Gewalt gegen Frauen in Brasilien

<strong>São Paulo.</strong> Eine neue Studie zu häuslicher Gewalt gegen Frauen im Großraum São Paulo belegt die Notwendigkeit der Einrichtung von Schutzmaßnahmen und schnellerer juristischer Ermittlungen in Fällen angezeigter häuslicher Gewalt gegen Frauen. Die von der Richterin Maria Domitila Domingos in Auftrag gegebene Studie, aus der die Tageszeitung <a href="http://www.estadao.com.br/estadaodehoje/20110704/not_imp740287,0.php">Estado de São Paulo am 4.Juli zitiert</a>, zeige, so die Richterin gegenüber der Zeitung, die Bedeutung spezialisierter Arbeit in dem Kampf gegen häusliche Gewalt. Früher wurde häusliche Gewalt von der Justiz oft als "kleiner Streit zwischen Ehemann und Ehefrau" angesehen, so die Richterin Maria Domitila Domingos. "Es ist aber ein Verbrechen, das innerhalb der vier Wände stattfindet und das durch die Gesellschaft banalisiert wird".
| von Christian Russau

 

Die Studie erhob ihre Daten in elf Regionalforen São Paulos und deckte auf, dass im Stadtteil Barra Funda, im Westen der Millionenmetropole São Paulo, die zur Anzeige gebrachten Fälle häuslicher Gewalt am höchsten waren. Dort sind die angezeigten Fälle innerhalb eines Jahres von 49 auf 2.522 im Jahre 2010 angestiegen – dies hieße aber nicht, dass es in Barra Funda mehr häusliche Gewalt als in anderen Stadtteilen gebe, so die Richterin. Denn in Barra Funda wurde vor zwei Jahren die erste Strafkammer eingerichtet, die auf die juristische Verfolgung von Straftaten häuslicher und familiärer Gewalt gegen Frauen spezialisiert ist. "Damals wurde in Frage gestellt, ob es überhaupt ausreichend Nachfrage geben würde nach solch einer Institution, die deren Einrichtung rechtfertigen würde", erklärte die Landgerichtsrätin Angélica de Maria de Almeida Mello des Justizgerichtshofes von São Paulo gegenüber dem Estadão. "Es reichte aus, ein spezialisiertes System einzurichten, damit die Anzeigen anstiegen", so Almeida Mello. Und die Anwältin Maria Gabriela Manssur ergänzte: "Die realen Zahlen der Gewalt gegen Frauen sind höher als das, was vor die Gerichte kommt" – aber die Zahlen zeigten auch die Bedeutung, die der Einrichtung von Schutzmaßnahmen und schnellerer juristischer Ermittlungen in Fällen  häuslicher Gewalt gegen Frauen zukommt: Häusliche und familiäre Gewalt gegen Frauen "schnell zu erkennen, kann bedeuten, ein Leben zu retten", so Maria Gabriela Manssur.

Laut einer Studie zur Gewalt, die das Institut Sangari im Auftrag der brasilianischen Regierung erstellt hat, werden in Brasilien jeden Tag zwölf Frauen infolge häuslicher Gewalt ermordet. Im Jahr 2010 waren es laut einer Erhebung der Zeitung Correio Braziliense 4.500 Frauen. 1996 waren es 3.600. Innerhalb von zehn Jahren gab es bei Frauenmorden in Brasilien laut der Zeitung demnach einen Anstieg um nahezu 30 Prozent. Dabei stachen vor allem die Bundesstaaten Pará mit einem Anstieg um 256 Prozent und Alagoas um 104 Prozent hervor. Laut dem Institut Sangari lag die Mordrate in Brasilien bei 3,9 je 100.000 Frauen. Zum Vergleich: in El Salvador lag sie bei 12,7, in Russland bei 9,4, in den Niederlanden bei 0,6.

Gewalt gegen Frauen wird laut den vorliegenden Statistiken in 70 Prozent der Fälle von den Ehemännern, Partnern oder anderen männlichen Familienangehörigen verübt. Während ein Fünftel aller brasilianischen Frauen Gewalt durch Männer erlebten, gestehen nur acht Prozent der Männer ein, bereits eine Frau angegriffen zu haben. Dies geht aus der im vergangenen Jahr durchgeführten Erhebung der Fundação Perseu Abramo hervor. Verharmlosung, Runterspielen, Druckausübung, physische wie emotionale Gewalt sind die gesellschaftlichen Charakteristika der von Männern ausgeübten Gewalt gegen Frauen.


So war es auch mit Maria da Penha. Die Apothekerin Maria da Penha wurde während sechs Jahren täglich von ihrem Ehemann angegriffen, brutal verprügelt. Zwei Mal versuchte er sie zu ermorden. Einmal schoss er auf sie, seither ist sie querschnittsgelähmt. Beim zweiten Mal versuchte er, sie per Stromschlag umzubringen und sie zu ertränken. Achtzehn Jahre war der Prozess gegen den Ehemann von der Justiz verschleppt worden. Letztlich saß der Ehemann insgesamt nur zwei Jahre in Haft. Die Regierung des damaligen Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva hatte infolge der damaligen Medienberichterstattung über den Fall im Jahre 2006 das Gesetz verabschieden lassen, um häusliche und familiäre Gewalt als Straftat zu behandeln und nicht als Privatangelegenheit. Flankiert wurde es durch effektivere Instrumente des Opfer- und Kinderschutzes und durch das Schaffen von weiteren Polizeidienststellen für Frauen. Seit 2008 werden die im „Maria da Penha“-Gesetz vorgesehenen Maßnahmen zum Opferschutz vom Haushalt des „Nationalen Programms für Sicherheit und Bürgerrechte“ (PRONASCI) finanziert.

Gut fünf Jahre nach Inkraftreten des Gesetzes „Maria da Penha“ in Brasilien haben nun erste Auswertungen ergeben, dass seit 2006 70.574 Frauen vor Gericht Schutzmaßnahmen zugesprochen bekommen haben. Diese dienen in erster Linie dazu, den Frauen die Möglichkeit zu geben, aus der familiären Gefahrensituation zu entkommen. Meist geschieht dies, wie der National Justizrat CNJ berichtet, indem dem Agressor die räumliche Annäherung an das Opfer und die Angehörigen verboten wird. „Die sind positive Zahlen“, meinte die Richterin Morgana Richa gegenüber der Tageszeitung Globo. Richa ist Koordinatorin des Justizrates, der die Umsetzung des „Maria da Penha“-Gesetzes in ganz Brasilien auswertet.

Der Bundesstaat Rio de Janeiro liegt in den Statistiken mit 28.303 gerichtlich festgelegten Schutzmaßnahmen und 32.452 Urteilen auf der Basis des 2006 in Kraft getretenen „Maria da Penha“-Gesetzes landesweit an der Spitze. Die Auswertungen stammen vom CNJ, der dazu die Gerichtsurteile der Bundesstaaten auswertet. Da einige Gerichte und Bundesstaaten keine oder unvollständige Daten lieferten, geht der Justizrat von noch höheren Zahlen aus. Doch die noch vor Gericht anhängigen Prozesse aber übersteigen die bereits erreichten Erfolge um das Vielfache, so der CNJ: Landesweit sind derzeit 332.216 Prozesse anhängig, allein in Rio de Janeiro sind es 93.843. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen.

Und die brasilianische Justiz zeichnet sich – wie in vielen anderen Fällen auch – nicht durch überaus beeindruckende Geschwindigkeit aus. Hinzu kommen patriarchalische Macho-Richter: Ein Richter in Sete Lagoas im Bundesstaat Minas Gerais hatte sich geweigert, das „Maria da Penha“-Gesetz anzuwenden. Seiner Meinung nach brächten diese „teuflischen Regeln“ die Familie in Gefahr. „Das menschliche Unglück begann im Garten Eden: wegen der Frau, das wissen wir doch alle“, so der Richter. Dieser wurde daraufhin für zwei Jahre vom Dienst suspendiert.

Die Regierung hat das Problem im Justizwesen aber erkannt. Um den Schutz der Frauen zu verbessern und die Bestrafung der Täter zu beschleunigen, haben Anfang April dieses Jahres mehrere Ministerien und Staatsanwaltschaften in Brasília eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe eingerichtet, um alle zur Verfügung stehenden Daten zu vor den Gerichten anhängigen Fällen zusammen zu tragen und die Gerichtsverfahren zu beschleunigen. Und der Kongress in Brasília verabschiedete ein Gesetz, das auch Zeugen von Fällen häuslicher Gewalt ermöglicht, diese zur Anzeige zu bringen. Bislang konnten dies nur die Opfer. Brasiliens Präsidentin, Dilma Rousseff, hatte im März ausdrücklich erklärt, häusliche Gewalt sei inakzeptabel und der Kampf dagegen eine der ihr am meisten am Herzen liegenden Fragen. Häusliche Gewalt müsse sofort angezeigt werden: „Das muss zur Anzeige gebracht werden, ja. Sonst werden wir die Gewalt gegen Frauen nicht stoppen können“, so die Präsidentin. Rousseff wies auch darauf hin, dass Gewalt gegen Frauen angezeigt werden muss. Dies betreffe vor allem Polizisten, Ärzte und medizinisches Personal, aber grundsätzlich alle: „Wer das nicht zur Anzeige bringt, dass er eine angegriffene, verletzte Frau behandelt hat, wird einem dienstaufsichtlichen Verfahren unterworfen und dem droht eine Strafe", so Dilma.

Es ist vor allem der Mobilisierung durch Frauengruppen und AnwältInnen zu verdanken, dass das Thema vermehrt bekannt wird. Die Kenntnis um das „Maria da Penha“-Gesetz bewegt mehr und mehr Frauen, den Schritt zu wagen, die von ihnen erlittene häusliche Gewalt zur Anzeige zu bringen. Brasilienweit wurde im vergangenen Jahr ein weiterer Anstieg bei den zur Anzeige gebrachten Fällen verzeichnet. Landesweit wurden demnach in der ersten Hälfte des vergangenen Jahres 340.000 Fälle von häuslicher Gewalt von den Opfern zur Anzeige gebracht. In den ersten vier Jahren des Gesetzes waren bis zum Jahre 2009 landesweit insgesamt 791.407 Fälle angezeigt worden. Zur Zeit sitzen 9.715 Männer wegen häuslicher Gewalt in brasilianischen Gefängnissen – verurteilt auf Basis des „Maria da Penha“-Gesetzes.

In der Hauptstadt des Bundeslandes Ceará, Fortaleza, werden jeden Monat durchschnittlich 500 Fälle von häuslicher Gewalt zur Anzeige gebracht. Das hat auch mit der dort im Jahre 2007 eingerichteten besonderen Strafkammer zu häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen zu tun. Im Jahr 2007 wurden dort 68 Schutzmaßnahmen für Frauen beschlossen, 2008 waren es schon 3.132 und im Jahre 2009 3.846 Schutzmaßnahmen für Frauen.

Anders aber sieht es auf dem Land aus. In ländlichen Gebieten fehlt es an solchen spezialisierten Strafkammern, es gibt keine gesonderten Polizeidienststellen für Frauen, Frauengruppen, AnwältInnen und Menschenrechtsorganisationen sind auf dem Land weniger präsent als in den urbanen Ballungszentren. Carmen Lorenzoni ist Sozialwissenschaftlerin, Theologin und Menschenrechtsaktivistin und Mitglied der Koordination der Bewegung von Kleinbäuerinnen aus dem Bundesstaat Rio Grande do Sul. Sie arbeitet seit Jahren zum Thema Gewalt gegen Frauen und weist im Gespräch mit KoBra auf die besonderen Schwierigkeiten hin, denen sich Frauen auf dem Land bei häuslicher Gewalt gegenüber sehen. „Die Gewalt ist die gleiche, jedoch der erste ins Auge springende Unterschied ist die ungemein stärkere Isolation der Frauen auf dem Land“, so Lorenzoni. „Kein direkter Nachbar, der die Schreie der Frau hört und vielleicht zu Hilfe eilen oder die Polizei rufen könnte“. Und Polizei, Gerichtsbarkeit oder die Frauen unterstützende Strukturen sind, wenn überhaupt, dann in den Städten, weit weg von den Frauen auf dem Land. „Es wäre nötig, dass die Staatsanwaltschaft, die nicht vor Ort ist, Strukturen schafft, die diese Frauen auf dem Land erreicht“, meint Lorenzoni. „Etwa eine Art mobile Einsatz- und Beratungsstelle der Staatsanwaltschaft, ebenso wie die Schaffung von Frauenhäusern und Polizeidienststellen für Frauen. Aber dafür fehlt es meist an Geld – und vor allem an politischem Willen“, kritisiert die Theologin.

Politischer Wille bedeutete neben mehr Mitteln auch verstärkte Koordinierung der verschiedenen Ebenen – Justiz, Regierung, Polizei – und Ausbildung und Sensibilisierung der MitarbeiterInnen dieser Ebenen. „Leider ist es so, dass ein Großteil der Mitarbeiter dieser staatlichen Stellen niemals eine besondere Weiterbildung in Fragen, was häusliche Gewalt bedeutet und wie sie auf die Frauen reagieren sollten, erhalten haben“, so Lorenzoni. „Und das führt dazu, dass in vielen Fällen die angegriffene Frau zum zweiten Mal Opfer wird: anstatt Hilfe zu bekommen, stößt sie auf Vorurteile, Diskriminierung, Erniedrigung“. Der Staat habe mit dem „Maria da Penha“-Gesetz den Rechtsrahmen gesetzt, nur müsse der Staat eben auch die durchgängige Umsetzung des Gesetzes angehen, meint Lorenzoni.

Dies sieht auch die Kongressabgeordnete in Brasília und Berichterstatterin über häusliche Gewalt, Jandira Feghali, so: das Gesetz „Maria da Penha“ muss umgesetzt werden. „Genauso wie ein Gerichtsurteil nicht weiter diskutiert werden muss, sondern schlicht erfüllt werden muss“. Doch neben den noch bestehenden Unzulänglichkeiten in der Exekutive stand das „Maria da Penha“-Gesetz auch in der Bundesgesetzgebung auf der Kippe. Erst im Januar dieses Jahres hatte ein Gericht entschieden, dass das „Maria da Penha“-Gesetz in Fällen minderer Schwere von häuslicher Gewalt nicht anzuwenden sei.


Mit Spannung war das Bundesgerichtshofurteil vom 24. März dieses Jahres erwartet worden. Das Gericht sollte darüber befinden, ob das im Jahre 2006 vom damaligen Präsidenten Lula eingeführte Gesetz zum Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt, das so genannte „Maria da Penha“-Gesetz, uneingeschränkt gültig sei oder ob in Fragen vermeintlich minderer Schwere andere Gesetzesparagraphen wie Körperverletzung oder Bedrohung Anwendung finden sollten  – und damit den Tätern mindere Strafe und den Frauen weniger Opferschutz drohe. Frauengruppen hatten gemeinsam mit AnwältInnen und Menschenrechtsgruppen in den letzten Monaten starke Mobilisierungsarbeit und Kampagnen zur Aufklärung über die Bedeutung der Entscheidung der obersten RichterInnen des Landes geleistet.

Der Oberste Gerichtshof urteilte schließlich, dass das „Maria da Penha“-Gesetz uneingeschränkt anzuwenden sei. Damit darf in Fällen häuslicher Gewalt das Gerichtsurteil nicht mehr auf Basis von Körperverletzung oder Bedrohung, sondern ausschließlich im Rechtsrahmen des „Maria da Penha“-Gesetzes erfolgen. Die Täter kommen damit nun nicht mehr mit geringen Strafgeldern und in Freiheit davon, wo sie die Opfer weiter bedrohen und misshandeln können. Die Bundesministerin des Sondersekretariats für Frauen, Iriny Lopes, nannte den 24. März 2011 einen „historischen Tag für die brasilianischen Frauen“ und bezeichnete die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes als: „außergewöhnlich“.