Besetzte Schulen

In São Paulo widersetzten sich hunderttausende Schüler*innen der Schließung ihrer Schulen.
| von Tainã Mansani, Übersetzung: Christian Russau

„Occupy Wall Street" war gestern. Nun waren es die 14- bis 17-jährigen Schüler*innen São Paulos, die zu Hunderttausenden Ende November bis Anfang Dezember 200 Schulgebäude besetzt hatten, um die vom Gouverneur für Januar angeordnete Schließung der Einrichtungen zu verhindern. Die Polizei setzte massenhaft Tränengas gegen Minderjährige ein. Am Ende musste der Gouverneur nachgeben, denn der Druck der Schüler*innen war zu groß – denn selbst die großen Fußballfanclubs hatten sich solidarisiert.

São Paulos Gouverneur Geraldo Alckmin von der rechten Partei PSDB hat auf seinem Weg zur Präsidentschaftskandidatur im Jahr 2018 eine schwere Schlappe einstecken müssen. Und das hat mit den Schulen zu tun. Es waren aber diesmal nicht die Lehrer*innen, die wie so oft in den vergangenen Jahren gegen miserable Gehälter und Arbeitsbedingungen protestiert hatten und die Alckmin kurzerhand von der seiner Kontrolle unterstehenden Militärpolizei mit Prügel und Pfefferspray zur Raison bringen ließ. Diesmal waren es die minderjährigen Schüler*innen der Millionenmetropole, die sich seinem Willen entgegenstellten.

Völlig unerwartet hatten Schüler*innen zwischen 14 und 17 Jahren ihre Schulen besetzt, um gegen die von Alckmin im Alleingang entschiedene Schulreform zu protestieren. Diese sah vor, die Schuljahrgänge in Zukunft wieder nach Basis-, Grund- und Mittelstufe zu trennen. Die in den 1970er Jahren eingeführte Zusammenlegung der Schulen sollte die soziale Integration fördern. Zudem sah Alckmins Reform vor, 93 staatliche Schulen mit rund 311.000 Schüler*innen ab Januar zu schließen, da diese „überflüssig“ seien. Die Lehrer*innen hingegen weisen stets auf die Überfüllung der Schulen hin, deren Überlastung einen angemessenen Unterricht nicht zuließen. Und auch die Schüler*innen oder deren Eltern waren nicht nach ihrer Meinung gefragt worden.

In kurzer Zeit schlossen sich dem Protest hunderttausende Schüler*ìnnen an, besetzten ihre Schulgebäude, campierten auf den Schulhöfen oder in den Klassenzimmern, hielten selbstverwalteten Unterricht ab, putzten die Toiletten und strichen die Klassenwände neu an, da der abfallende Putz aufgrund der staatlich verwalteten Verwahrlosung überhand zu nehmen drohte. „Meine Hoffnung ist es“, so der bekannte Journalist Leonardo Sakamoto von der Organisation Repórter Brasil, „dass diese jungen Leute möglichst bald an die Macht kommen“, denn, so Sakamoto, „mit dieser Generation, die die Schulen besetzt, wird die Politik radikal verändert, alle vier Jahre zu wählen wird nicht mehr genügen, diese jungen Leute wollen in Echtzeit an Politik teilhaben.“

Die Schüler*innen erreichten, was ihre Lehrer nie geschafft hatten: Der Gouverneur zog am 4. Dezember sein Schulreformprojekt zurück. Danach feierten die Schüler*innen zu Hunderttausenden – und die Fußballfans der beiden größten Vereine der Stadt, die Gaviões da Fiel, die Fans von Corinthians sind, und die Gruppe Independente, die Fans vom São Paulo F.C. sind, feierten mit, denn zuvor waren sie in Solidarität mit den Schüler*innen auf der Straße gewesen.

Noch wenige Tage zuvor hatte der Kabinettschef Alckmins von der Notwendigkeit dieses Krieges“ gesprochen, während draußen die Polizei mit Tritten und Tränengas gegen die Minderjährigen vorging. Das Vorgehen der Polizeikräfte rief eine scharfe Kritik von Amnesty International hervor.

Doch Alckmin wäre nicht Alckmin, der mittlerweile zum vierten Mal Gouverneursposten in São Paulo innehat und 2018 gerne Präsidentschaftskandidat werden will, wenn er nicht opportunistisch die Lage noch rechtzeitig erkennen würde, bevor es komplett zu spät wäre. Als am Morgen des 4. Dezember die Umfrage von Datafolha veröffentlicht wurden und zeigten, dass 61 Prozent der Wähler*innen gegen Alckmins Schulreform und nur 29 Prozent dafür waren, da ahnte er, dass diese Proteste wie die vom Juni 2013 größer als gedacht werden könnten, es sogar in die internationale Presse schaffen könnten – und somit seine Chancen auf das Präsidentenamt 2018 in Gefahr bringen könnten –, da wiederrief er flugs sein Schulschließungsprojekt.

Doch damit ist noch lange nicht alles gewonnen. Denn hinter dem Ganzen steht die neoliberale Agenda, die das öffentliche Schulsystem zugunsten der Privatschulen weiter aushöhlen möchte. So kürzt die Regierung São Paulos seit Jahren die Haushaltsmittel, an den Schulen kulminiert der Sanierungsstau und die Lehrer*innen werden mit einem Durchschnittsstundenlohn von umgerechnet vier Euro sechzig so schlecht bezahlt, dass Brasilien im Vergleich von 30 OECD-Staaten nur noch vor Ungarn und Indonesien liegt. Das Resultat: Wer die öffentliche Schulbahn und nicht die einer Privatschule durchlaufen hat, hat deutlich schlechtere Chancen, den Zugangstest zur Universität zu bestehen. Privatschulen wie die bekannte deutsch-brasilianische Schule Porto Seguro beispielsweise kosten umgerechnet rund 500 Euro je Monat, dafür bieten sie den Schüler*innen umfangreiche Vorbereitungskurse für den Unitest an. Dies spiegelt sich dann auch an den Universitäten wieder. So ist zwar der Anteil der Student*innen aus der Bevölkerungsschicht des wohlhabendsten oberen Fünftels zwischen 2004 und 2014 von 54 auf 36 Prozent zurückgegangen, aber dem brasilianischen Statistikinstitut IBGE zufolge gibt es immer noch fünf Mal mehr Student*innen aus dem reichsten Fünftel der Gesellschaft als aus dem ärmsten Fünftel.

Auch deswegen haben die Schüler*innen die Schulen besetzt und dabei auf die schwerwiegenden sozialen Probleme in Brasilien hingewiesen. Und aufgezeigt, dass die einzige klare Antwort auf die Ungerechtigkeiten im Schulsystem, die die Politik versteht, nur die Besetzung der Schulen sein kann. Und unter dem massiven Eindruck zigtausender Schüler*innen, vereint mit Fussballfangruppen, zog der Gouverneur die Schulreform zurück, zitierte flugs Papst Franziskus und sprach was von der bedeutung des „Dialog" - und hinterließ die auf die Möglichkeit zur Nachfrage wartenden Journalist*innen im Pressesaal wortlos stehen.

// Tainã Mansani
// Übersetzung: Christian Russau

Erscheint auch in der LN 499, Januar 2016.