Frei Sérgio hält Krise in der Landwirtschaft für strukturell bedingt

Der Correio da Cidadania interviewt in dieser Woche den Landtagsabgeordneten Frei Sérgio Görgen (PT/ Rio Grande do Sul), der sich über das kürzlich angenomme Gesetz zur Kleinbäuerlichen Landwirtschaft (Lei de Agricultura Familiar), die Krise im landwirtschaftlichen Sektor und die Agrarreform in Brasilien äußert.
| von Mateus Alves, Correio de Cidadania Nr. 513

Correio da Cidadania (CC): Erwägt das kürzlich erlassene Gesetz zur Kleinbäuerlichen Landwirtschaft sämtliche notwendigen Schritte für Brasilien auf diesem Sektor?

Frei Sérgio Görgen (FSG): Das Gesetz ist lediglich ein positives Signal und bringt nichts Neues im Hinblick auf das Programm zur Förderung der Kleinbäuerlichen Landwirtschaft (Pronaf) und andere kürzlich eingeleitete Schritte. Es handelt sich einfach nur um eine Art Querriegel, um Rückschritte dort zu verhindern, wo bereits etwas erreicht wurde, indem es lediglich definiert, was unter Kleinbäuerlicher Landwirtschaft zu verstehen ist, und außerdem die Notwendigkeit unterschiedlicher politischer Richtlinien für Kleinbäuerliche Landwirtschaft und Unternehmerische Landwirtschaft festlegt.

Eigentlich ist es das erste Mal, dass dieses in unserem Land auf gesetzlichem Wege geschieht. Es ist ein Fortschritt, dass die Unterschiedlichkeit der beiden landwirtschaftlichen Modelle anerkannt wird, aber an der Stelle hört die Reichweite des Gesetzes auch schon auf. Für meine Begriffe zumindest müsste es sehr viel weitergehen. Dennoch ist es in jedem Fall ein wichtiges Symbol, weil es einen Bereich berührt, in dem wir keinerlei Rückschritte akzeptieren dürfen, und die politische Notwendigkeit festlegt, zwischen den in Brasilien existierenden Landwirtschaftstypen zu unterscheiden.

CC: Und wie müsste Ihrer Ansicht nach ein weiterreichendes Gesetz aussehen?

FSG: Es wäre notwendig, eine Satzung für die bäuerliche Landwirtschaft zu definieren, die mehr unterstützende Elemente enthielte, und die ein Modell für die Agroindustrie mit einem klar umrissenen Kooperativsystem und einem Mechanisierungskonzept schüfe. Außerdem benötigen wir weitere wichtige Elemente in den Bereichen Wohnen, Kommunikation und Ausbildung, die bisher noch fehlen.

CC: Glauben Sie, dass die Annahme des Gesetzes wahltaktische Gründe hat, in Anbetracht der Tatsache, dass 2006 anlässlich der bevorstehenden Wahlen ein Jahr der Festlegungen in Exekutive und Legislative darstellt?

FSG: Ich habe den Eindruck, dass es nicht so ist. Die Initiative ging vom Abgeordneten Assis Couto (PT/ Paraná) und nicht von Seiten der Regierung aus, durchlief die Instanzen auf normalem Wege und wurde entschieden, als die notwendigen Voraussetzungen geschaffen waren.

Ein Kuriosum ist, dass die Regierung nach Annahme des Gesetzes genötigt war, Erklärungen zu den Landwirtschaftstypen abzugeben, wobei sie diese als komplementär und nicht als gegensätzlich definierte – und in diesem Punkt stimme ich nicht zu, denn die Unternehmerische Landwirtschaft und die Landwirtschaft im kleinen Umfang vertreten auf jeden Fall gegensätzliche Interessen.

CC: Welches sind die Gründe für die schwerwiegende Krise, die die landwirtschaftliche Produktion Brasiliens momentan durchlebt? Leiden die kleinbäuerlichen Landwirtschaftsbetriebe ebenfalls unter ihren Auswirkungen, oder betrifft dieses Problem allein die landwirtschaftlichen Großbetriebe?

FSG: Die Krise betrifft im Grunde genommen das brasilianische Landwirtschaftsmodell als Ganzes, und somit alle bestehenden Formen der Landwirtschaft. Dieses Modell ist aus verschiedenen Gründen in der Krise; einer davon ist, dass es sich vollkommen auf die Monokultur gestützt hat. Und zusätzlich treten momentan verschiedene natürliche Faktoren gleichzeitig auf, die die landwirtschaftliche Produktion hart treffen.

Ein weiterer Grund ist, dass auf Handelswaren im Exportbereich gesetzt wird, als ob der Markt sich noch unbegrenzt ausweiten ließe. So etwas gibt es aber nicht, es gibt immer eine Obergrenze für diese Ausdehnung. Hiervon einmal abgesehen gibt es eine Krise im Bereich der Energiequellen, die dieses Modell versorgen, welches nämlich vom Erdöl abhängig ist. Wegen des hohen Ölpreises sind die Kosten auf fantastische Werte angestiegen. Der gesamte Transport hängt vom Erdöl ab, und mit einem Barril-Preis von momentan 76 Dollar wird das gesamte Unternehmen undurchführbar.

Dann gibt es noch den Aspekt, dass der gesamte landwirtschaftliche Markt inzwischen in den Händen einiger weniger multinationaler Unternehmen ist, der berühmten „ABCD“-Gruppe bestehend aus ADM, Bunge, Cargill und DuPont. Diese großen Exporteure sind es, die in Wirklichkeit den landwirtschaftlichen Markt beherrschen und die schalten und walten wie es ihnen beliebt. Sie sind es, die die Preise bestimmen und den Handel kontrollieren.

Diese Abfolge von Faktoren hat zu dieser extrem harten, tiefen und schwer überwindbaren Krise geführt. Hierzu lässt sich noch ein Aspekt hinzufügen, der eigentlich im Zentrum unserer Landwirtschaft stehen sollte: der Binnenmarkt und die lokale Versorgung mit Lebensmitteln. Beides ließe sich ausweiten und aufstocken, aber hier tut sich nichts.

CC: Mit welchen Maßnahmen geht die Bundesregierung gegen diese Krise vor?

FSG: Die Regierung bekämpft die Krise nicht an ihren Wurzeln, sämtliche ergriffene Maßnahmen haben nur abschwächende Wirkung. Man zielt nicht auf eine Änderung des Modells ab und schafft keinen weitreichenden und langfristigen Mechanismus zur Behebung der Krise.

Stattdessen werden Schuldfristen verlängert, neue Märkte gesucht, etc. Im Bereich der Kleinbäuerlichen Landwirtschaft gibt es einige Maßnahmen, die einen wichtigen Anstoß geben, sie sind allerdings noch immer sehr zurückhaltend in ihrem Umfang, wie das Programm zur Preisgarantie (programa de garantia de preços) – wichtig für eine wirksame Kontrolle öffentlicher Lagerbestände – und das Programm zur Einführung einer Versicherung in der Landwirtschaft (programa de seguro agrícola), das ein Einkommen in Zeiten von Klimakatastrophen oder ähnlichen Ereignissen garantiert.

Diese beiden letzten von mir aufgeführten Maßnahmen sind, einmal abgesehen von den Programmen zur Nahrungsmittelversorgung, deswegen wichtig, weil sie Instrumente zur Regulierung auf Ebene der Bundesstaaten darstellen. Sie haben jedoch ein beschränktes Ausmaß - viel zu zaghaft, wenn wir ernsthaft die Struktur des Modells verändern wollen.

Positiv könnte sich in dieser Angelegenheit auswirken, wenn die Regierung ein Programm zur Energiegewinnung in Verbindung mit einem weiteren zur Nahrungsmittelproduktion auf den Weg bringen würde, wie z.B. ein breit angelegtes Programm zur Herstellung von Alkohol und Biodiesel – gerichtet an die Kleinbäuerliche Landwirtschaft - mit massiven und bedeutenden Investitionen, und wenn sie ebenfalls ein neues Modell für den Einsatz von Technologie in der Landwirtschaft in Erwägung ziehen würde. So könnte die Regierung ein Signal setzen für eine Zukunftsperspektive im Bereich der Kleinbäuerlichen Landwirtschaft.

CC: Kürzlich geäußerte Kritiken von Seiten Intellektueller und führender Persönlichkeiten aus dem landwirtschaftlichen Bereich am Bio-Brennstoff-Programm der Regierung geben zu verstehen, dass die Projekte in diesem Bereich in den Händen der multinationalen Unternehmen bleiben würden. Stimmt das?

FSG: Ja, das stimmt. Es ist schwierig, daran etwas zu ändern, und über dieses Thema haben wir schon häufig mit der Regierung und mit Petrobrás diskutiert. Die Programme brauchen massive Unterstützung, damit die bäuerliche Landwirtschaft zum handelnden Subjekt wird und nicht einfach nur ein Rohstoffproduzent zweiten Ranges für die Bereiche bleibt, die das Agro-Business nicht in der Lage ist zu produzieren.

Um die Situation zu verbessern, gibt es bereits einige Projekte, die im Moment verhandelt werden, aber die landwirtschaftlichen Großunternehmer und multinationale Firmen sind gegen deren Umsetzung.

CC: Welches sind die Auswirkungen des Scheiterns der Verhandlungen in der Doha-Runde auf die bäuerliche Landwirtschaft in Brasilien?

FSG: Das Scheitern ist als sehr positiv zu bewerten. Wir müssen die Illusion verlieren, dass der Außenhandel sich grenzenlos ausweiten lässt. Ein Erfolg der Doha-Runde hätte Brasilien großen Schaden zugefügt, da wir mehr Möglichkeiten erhalten hätten, Rohstoffe in praktisch natürlichem Zustand zu exportieren, und den großen multinationalen Unternehmen den Zugang zum Markt im Bau-, Bildungs- und Sozialwesen ermöglicht hätten.

Durch das Vorgefallene haben vielleicht einige landwirtschaftliche Großunternehmer im Einzelnen Verluste zu beklagen, aber das Land kann hier nur hinzugewinnen. Wie ich bereits sagte, die Lösung für die brasilianische Landwirtschaft liegt im Ausbau des Binnenmarktes, und hierzu ist es notwendig, die Landreform durchzuführen und eine gleichmäßigere Verteilung der Einkommen zu fördern. Die Probleme Brasiliens sind strukturell bedingt, und folglich müssen auch die Lösungen strukturell sein.

CC: Gab es in diesem letzten Jahr der Regierung Lula irgendeinen Hinweis auf Fortschritte bei der Umsetzung der Landreform in Brasilien?

FSG: Nein, alles setzt sich seit Regierungsbeginn im selben Tempo fort, nämlich sehr langsam. Es gab zwar einige zusätzliche Enteignungen, aber nichts, was den Prozess auf das notwendige Maß beschleunigt.