Dammbrüche und Sirenengeheul: Landgrabbing durch Terror nach den Desastern von Mariana und Brumadinho

"Es war kein Unfall - es war ein Verbrechen" protestieren empörte Bürger nach dem Bruch der beiden Rückhaltebecken für Nebenprodukte aus der Eisenerzproduktion Fundão der SAMARCO S.A. in Mariana1 (MG), 2015, und Córrego do Feijão der Vale SA. in Brumadinho (MG), 2019.
| von Klemens Laschefski (UFMG)
Dammbrüche und Sirenengeheul: Landgrabbing durch Terror nach den Desastern von Mariana und Brumadinho
Foto: Mídia NINJA (2019) Missão Brumadinho (MG) (CC BY-NC-SA 2.0)

Diese beiden Ereignisse zählen weltweit zu den größten Umweltkatastrophen im Bergbau. Im Falle des Kollapses des Fundão-Staudamms rollte eine Lawine von 60 Millionen Kubikmetern toxischer Schlamm über einen 663 Kilometer langen Abschnitt der Flüsse Gualaxo do Norte, Carmo und Doce. Das Desaster forderte 19 Todesopfer, beeinträchtigte die Wasserversorgung von 35 Gemeinden und rund 1.200 Familien verloren ihr Zuhause. Die beiden Dörfer Bento Rodrigues und Paracatu wurden vollständig zerstört. Die Ursache ist nicht auf ein Naturereignis, sondern auf kriminelle Fahrlässigkeit nicht nur der beteiligten Unternehmen, sondern auch der für die Genehmigung und Überwachung von Dämmen zuständigen Behörden zurückzuführen. Es handelt sich also um ein durch Menschenhand ausgelöstes Desaster welches in der Planungsphase begonnen hatte und auch danach während des Katastrophenmanagements seine Fortsetzung findet. Bisher wurde niemand verhaftet und die Probleme der Opfer sind noch lange nicht gelöst.

Der Bruch des Staudamms Córrego Feijão hat 270 Menschenleben gefordert (davon gelten immer noch 22 als vermisst). Der toxische Schlamm ergoss sich über mehr als 300 km über den Paraopeba-Fluss und seine Ufer2. Beiden Verbrechen ging eine Reihe ähnlicher Vorfälle geringeren Ausmaßes voraus, die sich in einem Umkreis von weniger als 90 km in der Eisenerzregion um Belo Horizonte ereigneten. Dazu zählen die Dammbrüche in Itabirito 1986 (sechs Totesopfer) und 2014 (drei Opfer), Nova Lima (2001, fünf Opfer, Miraí (2007, 4000 Obdachlose) und Congonhas (2008, 40 obdachlose Familien). Die derzeit viel diskutierte "Nachlässigkeit" weist also auf den systemischen Charakter der Ineffizienz rund um die Umweltlizenzen hin. Dieser Mangel zieht sich auch nach den Desastern durch die endlosen Verhandlungen um Entschädigungsleistungen, die das soziale Leid der Opfer weiter erhöhen.

Auf der anderen Seite erfolgt die wirtschaftliche Erholung der für die Verbrechen verantwortlichen Unternehmen überraschend schnell. In der Zeit zwischen den beiden Desastern von 2015 bis 2018 verdreifachte Vale S.A. ihre Gewinne. Alles deutet darauf hin, dass auch der Imageschaden des Unternehmens nach dem Verbrechen von Brumadinho nicht zu Verlusten führt3.  Wir suchen nun Antworten auf zwei Fragen: Warum setzen sich etablierte Governance-Systeme nicht gegen diese multinationalen Unternehmen durch, um derartige Katastrophen zu vermeiden? Und: Nutzen die Unternehmen Katastrophen, um noch mehr Gewinn zu erzielen und sich neue Gebiete anzueignen?


Der Einfluss von Bergbauunternehmen auf das Umweltsystem in Minas Gerais

Nach der Katastrophe in Mariana wurde eigentlich eine Umkehrung des schon lange anhaltenden Trends zur Aufweichung der Umweltgesetzgebung in Brasilien erwartet. Überraschenderweise hat sich jedoch dieser Prozess sogar noch beschleunigt. Den Bergbauunternehmen gelang es, Einflusskanäle im Umweltsystem zu etablieren, die selbst nach der Ablösung des Gouverneurs von Minas Gerais Fernando Pimentel der linken Regierung der Arbeitspartei (PT) durch Romeu Zema der rechten Partei Novo im Jahr 2018 in personeller und struktureller Hinsicht unverändert blieben. Besser kann der von der argentinischen Wissenschaftlerin Maristela Swampa beschriebene "Rohstoffkonsens", der sich in der Tendenz zur Reprimatisierung der Wirtschaft in ganz Lateinamerika widerspiegelt, kaum aufgezeigt werden.

Die Ursache für dieses Phänomen liegt in ganz praktischen Gründen: Im Jahr 2014 ließen 78,4% der Abgeordneten von Bund und Ländern in Minas Gerais, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung, ihren Wahlkampf von Bergbauunternehmen finanzieren4. Auf diese Weise konnten sich die Bergbau-unternehmen die notwendigen Mehrheiten in der Politik für die Änderung der Umweltvorschriften zu ihren Gunsten sichern. Ein Beispiel dafür sind die am 21. Januar 2016 - nur zwei Monate nach dem Dammbruch in Mariana - bewilligten Änderungen im Umweltsystem von Minas Gerais. Der wichtigste Punkt ist die Schaffung einer eigenen Behörde für vorrangige Projekte die sich Superintendência de Projetos Prioritários (SUPPRI) nennt. Vorrangige Projekte sind in der Regel jene von Firmen, die die Kampagnen der gewählten Regierung bezahlten. Die direkt dem Gouverneur untergeordnete SUPPRI hat die Aufgabe das Umweltverträglichkeitsverfahren zu beschleunigen, in dem sie die in dem partizipativem Umweltrat COPAM bearbeiteten Prozessen zu “vorrangigen” Vorhaben, die durch Einsprüche der Zivilgesellschaft oft lange andauern, herausnimmt, analysiert und mit einer "Empfehlung zur Abstimmung" zurückgibt (Gesetz Nr. 21.972, Art. 24).

Zu diesem Zweck hat die SUPPRI mit der Regelung COPAM 217/17, ein Instrument geschaffen, das eine Neueinstufung des Schadenspotenzials der betreffenden Projekte nach generalisierenden oberflächlichen Kriterien ermöglicht5. Das Instrument diente am 11. Dezember 2018 dazu, das zuvor dreistufige Planfeststellungsverfahren für die Minen Jangada und Córrego do Feijão, das Umweltverträglichkeitsprüfung, Bau- und Betriebsgenehmigung umfasste, in einer einzigen Lizenz zusammenzufassen. Damit wurde nicht nur die Ausarbeitung weiterer Studien, sondern jede weitere Partizipation der Zivilgesellschaft in den weiteren Planungsphasen unterbunden. Die Entscheidung löste Kontroversen aus, da die SUPPRI dieses Vorgehen mit den vermeintlich positiven Umwelteffekten des Abbaus des in dem Projekt eingegliederten Dammes in Brumadinho begründete, der eineinhalb Monate später das Desaster auslöste. Das eigentliche Vorhaben, die Erzproduktion in den beiden genannten Minen um 88% zu erhöhen, hat die SUPPRI völlig außer Acht gelassen. Die Lizenz wurde mit nur einer Gegenstimme der Vertreterin der Zivilgesellschaft und einer Enthaltung des Vertreters des Brasilianischen Instituts für Umwelt IBAMA erteilt. Er begründete dies mit einem bemerkenswerten Argument:

Viele hier haben das Problem des Dammes Fundão in Mariana erwähnt, und hier haben wir ein ähnliches Problem. Es ist Fakt, dass diese Art von Dämmen kein Nullrisiko haben. Bei einer kleinsten Nachlässigkeit derjenigen, die das Risikomangement betreiben, brechen sie zusammen. Wenn dieser Damm [in Brumadinho] der vor ein paar Jahren aufgegeben wurde, nicht abgebaut wird, bricht er, und das bedeutet die Freisetzung 10 Millionen m³, einem Viertel des Fundão Dammes. Dies bedeutet das Ende der Gemeinde Casa Branca und mindestens einer der Entnahmestellen des Wasserversorgungssystems Paraopeba. (Umweltrat Julio Cesar Dutra Grillo während der Begründung seines Votum am 37. Sitzung der CMI / COPAM am 11.12.2018).

Die Frage des unmittelbaren Risikos des Dammes Corrégo do Feijão BI war also allgemein bekannt. In der gleichen Sitzung wurden drei andere ähnliche Projekte genehmigt. Die Frage der plötzlichen Eile, eine große Anzahl von Minenausbauprojekten zu genehmigen, bei denen der Abbau dieser Art von Dämmen nur als ein Nebenaspekt hinsichtlich freiwerdender Deponiekapazitäten Erwähnung findet, wurde jedoch offengelassen. Die Antwort darauf liegt im Kauf der Firma New Steel S.A. durch die Vale S.A. für 500 Millionen US-Dollar am gleichen Tag, an dem das Projekt in Brumadinho freigegeben wurde. New Steel besaß zu dem Zeitpunkt in 56 Ländern Patente für eine industrielle Verwertungstechnologie der Erzrückstände in Tailingsdämmen (Fines Dry Magnetic Separation (FDMS)):

Im September 2017 erhielt New Steel die Installationslizenz (LI) für eine Trockenaufbereitungsanlage in Ouro Preto (MG) innerhalb der Vale Mine Plant - wo bereits seit 2015 eine Pilotanlage betrieben wurde. ...] Jetzt ist alles in einem Hause. Vale hat gerade auch die Lizenz für die Erweiterung der Minenkapazität Jangada und Córrego do Feijão in Brumadinho und Sarzedo von 10,6 auf 17 Mio t pro Jahr erhalten. Das Projekt umfasst die Wiederaufbereitung von Mineralstaub aus den Staudämmen I und VI von Córrego do Feijão und die Implementierung einer Pipeline zum Transport des Materials zu den Verarbeitungsbetrieben (ITMNEWS, 2019 ).

Nach dem Desaster leugnete Vale S.A. jede Verbindung zwischen der Transaktion und dem gebrochenen Damm6. Dennoch gibt es Hinweise auf eine geplante Strategie der Erschließung neuer Märkte rund um die Dammstilllegungen, in der die neue Technologie zum Einsatz kommen soll. Am 29. Januar, nur fünf Tage nach dem Kollaps des Damms in Brumadinho, kündigte das Unternehmen die Schließung von 10 weiteren Dämmen desselben Typs an. Der Plan dafür wäre fertig und wurde bereits mit Bund und Ländern unter Beteiligung der zuständigen Umweltbehörden abgestimmt. Am folgenden Tag veröffentlichte der Umweltminister die Gemeinsame Resolution SEMAD/FEAM Nr. 2.765 vom 30. Januar 2019, in der festgelegt wurde, dass die Dämme der Upstream-Methode innerhalb von maximal zwei Jahren beseitigt werden sollten. Ab diesem Zeitpunkt benötigt also jede Bergbaufirma, die bei der Stilllegung der Dämme das verbleibende Erz nutzen will, die Technologie von New Steel, da Vale die Patente hält. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich die Aktien von Vale genau an diesem Tag um 8,5% erholt haben7. Die Hypothese, dass der von Vale vorgelegte "Notfallplan" bereits vor der Katastrophe in Brumadinho existierte, wird durch die folgenden Nachrichten gestützt:

Seit 2015 hat Vale in Minas Gerais wichtige Staudammbauprojekte wie den Staudamm Brucutu Norte (2015) und den Staudamm Forquilha V (2016) entwickelt, und es wurden neue Projekte wie der Staudamm Maravilhas III (2016), gestartet. Es ist wichtig zu betonen, dass die Konstruktion der neuen Dämme einer konventionellen Methode entspricht, und deren Erstellung  [...]  gemäß der nach dem Bruch des Samarco-Staudamms in Mariana in 2015 getroffenen Entscheidung, alle Upstream-Dämme stillzulegen und abzubauen, im Sinne der Pressemitteilung vom 29. Januar 2019 beschleunigt wird [...].

Vale plant, den Anteil der Trockenaufbereitung an der Produktion bis 2023 auf 70% zu erhöhen und damit den Einsatz von Tailingsdämmen im Betrieb zu reduzieren. Diese Initiative geht einher mit der am 11. Dezember 2018 angekündigten Übernahme von New Steel. (IM, 2019, eigene Übersetzung).

Nach der Freigabe der Genehmigungen für den Ausbau der Projekte Jangada und Córrego e Feijão beobachteten die Bewohner in Brumadinho eine Zunahme der Fahrzeugbewegungen sowohl in den Minen als auch in den Dämmen. Nach unbestätigten Berichten sind die Maßnahmen zur Entwässerung des Absetzteichs gescheitert. Tatsache ist, dass kurz vor dem Dammbruch ".... inkonsistente Messungen an mehreren Piezometern durchgeführt wurden, die in der B1" Dammmasse installiert waren (MPF/MPE/PF, 2019). Dennoch wurden die Aktivitäten der Bergbauunternehmen nicht eingestellt und es gab keine Evakuierung der gefährdeten Gebiete. Vor diesem Hintergrund kann die Katastrophe von Brumadinho durchaus als erfolgloser Versuch angesehen werden, die oben beschriebene Strategie zu initiieren.


Katastrophentraining, Produktion von Angst und Aneignung von Territorien

Es scheint jedoch so, dass Vale sich schnell von dem Schock erholt hat. Kurz nach der Veröffentlichung einer Liste von 10 weiteren kritischen Dämmen beeilte sich das Unternehmen zu erklären, dass es keine unmittelbare Gefahr einer weiteren Katastrophe gebe8. Als sich jedoch die öffentliche Debatte über die Sicherheit der Bewohner in den so genannten "Selbstrettungszonen" intensivierte, änderte sich das Verhalten von Vale. Sie begann, Fluchtwege zu signalisieren, Sirenen aufzustellen und die Bevölkerung durch spezielle Trainings auf Notfälle vorzubereiten. Es handelt sich jedoch nicht um eine zivilisierte Strategie der Risikominimierung und Vorbereitung auf temporäre Evakuierungen, die die Bevölkerung beruhigen könnte. Stattdessen ließ Vale nach der bürokratischen Neueinstufung des Risikoniveaus dieser Dämme die Sirenen im Morgengrauen heulen, ohne dass es wirklich nötig war. Soziale Bewegungen nennen das Verfahren "Terrorismus der Tailingsdämme" (MANUELZÂO, 2019), wodurch Tausende von Menschen vertrieben wurden. Für die Bewohner wurde ihr Wohn- und Lebensort buchstäblich über Nacht in eine Angstzone verwandelt, aus dem sie so schnell wie möglich weg wollten. Aber was für einen Vorteil, zieht Vale aus diesem Vorgehen?

Wie erwähnt, sind die Dämme, die nun als hochriskant eingestuft werden, genau diejenigen, deren Rückbau das Unternehmen schon vor dem Desaster plante. Die Trockenextraktion der abgelagerten Rückstände erfordert die Entwässerung der Absetzteiche. Um das Wasser zu sammeln, muss das Unternehmen Deiche in einem gewissen Abstand unterhalb dieser Dämme bauen. Daher muss Vale S.A. Land kaufen und die notwendigen Lizenzen erwerben. So war es auch im Falle des Sul Superior-Staudamms im Bergbaukomplex Gongo Soco in der Gemeinde Barão de Cocais. Nach der Neueinstufung der Gefahrenstufe am 8. Februar 2019, ließ Vale um 4:00 Uhr morgens die Sirenen heulen und evakuierte 487 Personen9. Am selben Tag kündigte Vale gegenüber SUPPRI den Beginn von "Notfallarbeiten zur Umsetzung der Laminatbeton-Konstruktion - RCC stromabwärts des Alto-Sul-Staudamms" (Schreiben eingereicht bei SUPPRI/SEMAD, 04.09.2019, Nr. 446/2019) an, die auch die Beseitigung von geschütztem Atlantischen Küstenregenwald einschließt. Es handelt sich um eine 35 m hohe und 107 m lange Mauer, die 6 km unterhalb des gefährdeten Damms errichtet wird. Die zum Teil traditionellen Gemeinden Socorro, Tabuleiro, Piteiras und Vila Congo, die sich in dieser offiziell ausgewiesenen “Selbstrettungszone” (nach dem Prinzip “Rette sich wer kann”) befinden, werden wahrscheinlich nie wieder in ihr Land zurückkehren können.

Ähnlich wurde im Juli 2019 im Fall der B3/B4-Staudämme der Blue Sea Mine in São Sebastião das Águas Claras, allgemein bekannt als Macacos, verfahren. Da es sich “um ein Notfallprojekt handelt, ist eine vorherige Genehmigung nicht erforderlich", so Vale10.

Mit anderen Worten, das Unternehmen benutzt das Notfallargument, um die Umweltverträglichkeitsprüfung auszuhebeln und sich billig umfangreiche Flächen für ihre Vorhaben anzueignen, die ja über die durch die Katastrophentrainings ausgelöste Angst unverkäuflich wurden. Es handelt sich also um eine neue Form von Landgrabbing durch Terror. Neben den genannten Fällen heulten die Sirenen bereits in Itatiaiuçu, Nova Lima, Ouro Preto, Itabira, Itabirito, Congonhas und Rio Preto, während die Aktien der für die Verbrechen verantwortlichen Bergbauunternehmen munter steigen.